zurück zur Übersicht

Die vernetzte Stadt. Die Trauma Plattform Berlin als unfallchirurgische Antwort auf Herausforderungen der Gegenwart

Professor Dr. Sven Märdian hat Medizin studiert, um Unfallchirurg zu werden. Das Fachgebiet hat ihn schon früh fasziniert – somit stand die spätere Spezialisierung von Beginn an fest. Vielleicht ganz passend für einen, der eine Postkarte an der Magnetpinnwand hängen hat, auf der die Worte ‚sollte‘, ‚würde‘ und ‚könnte‘ untereinander abgedruckt sind, alle durchgestrichen, und auf der das Verb ‚MACHEN‘ darunter in Großbuchstaben zentral gesetzt ist. Heute ist Märdian nicht nur Experte für Verletzungsmuster aller Art, sondern u. a. auch stellvertretender geschäftsführender Direktor des Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie der Charité – Universitätsmedizin Berlin. Gemeinsam mit Kollegen aus anderen führenden Berliner Häusern initiierte er die „Trauma Plattform Berlin“: eine neue Struktur, die die Großversorger auf den Ebenen Forschung, Versorgung und Prävention multimodal vernetzen soll, zum Wohle der Bürgerinnen und Bürger Berlins und zum Erkenntnisgewinn für Wissenschaft und Klinik. Mit dem Konzept bewarb er sich auf den Max Rubner-Preis 2022 – und gewann. Wir haben Sven Märdian in seinem Büro auf dem Campus Virchow-Klinikum getroffen, um mehr über das Vorhaben und dessen Umsetzung zu erfahren. 

Professor Märdian, Ihre Idee einer Trauma Plattform Berlin wurde vor knapp zwei Jahren mit dem Max Rubner-Preis ausgezeichnet. Können Sie uns den Grundgedanken und die Relevanz des Projektes skizzieren? 

In Berlin gibt es fünf Level-I-Traumazentren, die die Versorgung von Schwerstverletzten für den Großraum Berlin sicherstellen: Standorte sind der Charité-Campus Virchow-Klinikum (CVK), der Charité-Campus Benjamin Franklin (CBF), das Unfallkrankenhaus Berlin (UKB), das Vivantes-Klinikum im Friedrichshain und das Helios Klinikum Berlin-Buch. Der grundlegende Gedanke hinter unserer Rubner-Preis-Bewerbung war, diese fünf Großversorger als übergreifende Trauma Plattform Berlin enger miteinander zu vernetzen als bis dahin der Fall war. Im Rahmen der Trauma Plattform können jetzt beispielsweise standardisiert Daten unterschiedlichster Verletzungsmuster zusammengeführt werden, an denen sich detaillierte Analysen durchführen lassen. Das ist einzigartig und über das klassische Traumaregister in dieser Tiefe nicht möglich. Mithilfe der Analysen soll ermittelt werden, wie die Unfall- bzw. Verletztenzahlen nachhaltig reduziert werden können und welche präventiven Maßnahmen dafür nötig sind. Darüber hinaus wollen wir im Rahmen von Weiterbildungseinheiten über die Grenzen der verschiedenen Zentren hinweg mit einem Rotationsprogramm für ärztliche und pflegerische Teams in den Wissensaustausch gehen. Denn auch wenn an jedem der einzelnen Standorte verunfallte Patientinnen und Patienten selbstverständlich nach den Prinzipien der modernen Traumaversorgung therapiert und in der Nachbehandlung begleitet werden, so hat doch jedes Zentrum eigene Schwerpunkte: Wir sind zum Beispiel das kindertraumatologische Referenzzentrum für den Großraum Berlin. Das UKB wiederum ist das Querschnittszentrum. Am Vivantes in Friedrichshain gibt es eine spezielle Druckkammer, mithilfe derer Infektpatientinnen und -patienten mit hyperbaren Sauerstofftherapien versorgt werden können. Entsprechend haben die Kolleginnen und Kollegen dort natürlich besondere Expertise in dem Bereich aufgebaut. Wir können also alle voneinander lernen – und wollen das auch.

Sven Märdian

Förderprogramm
Max Rubner-Preis

Jahr der Auszeichnung
2022

Fachgebiet
Unfallchirurgie

Vorhaben
Trauma Plattform Berlin

Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2019
Stellvertretender geschäftsführender Direktor des Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie (CMSC), Charité – Universitätsmedizin Berlin

Seit 2018
Koordinierender Katastrophenschutzbeauftragter der Charité – Universitätsmedizin Berlin

2015
Habilitation: „Behandlungsergebnisse und innovative Konzepte zur Optimierung der osteosynthetischen Stabilisierung von periprothetischen Femurfrakturen“

Für alle, die mit den Begrifflichkeiten nicht so vertraut sind: Wofür steht die Bezeichnung „Level-I“ in Level-I-Traumazentrum?

Wir sprechen von einer Dreigliedrigkeit der Traumazentren in Deutschland. Es gibt lokale, regionale und überregionale Traumazentren. ‚Überregional‘ entspricht dabei der höchsten Stufe und somit Level I. Die Bezeichnung ist dem anglo-amerikanischen Raum entlehnt. Wir sind im Prinzip das Krankenhaus, das alles kann. Es bietet Patientinnen und Patienten die höchste chirurgische Versorgung. Dafür steht zum Beispiel eine breite Palette an Spezialistinnen und Spezialisten sowie Equipment zur Verfügung.

Sie haben angedeutet, dass das Traumaregister in seiner Aussagekraft Grenzen hat. Inwiefern ergänzt die Trauma Plattform Berlin das nationale Register? Was sind die Unterschiede bzw. jeweiligen Stärken?

Jedes Traumazentrum in Deutschland ist verpflichtet, Daten in das Deutsche Traumaregister einzugeben. Mit der Einführung des Registers in den frühen neunziger Jahren, die von der Fachgesellschaft für Unfallchirurgie vorangetrieben wurde, waren wir in Deutschland übrigens Vorreiter. Seitdem wird für jede Patientin, jeden Patienten ein standardisierter Datensatz ausgefüllt. Das ist absolut richtig und wichtig. Die Ergiebigkeit dieser Datensätze ist aber relativ: Sie bilden eine gute Grundlage, um sich Entwicklungen in der Breite anzuschauen, etwa in Bezug darauf, ob Verkehrsunfälle zurückgehen oder welche Verletzungsmuster heutzutage vermehrt auftreten im Vergleich zur Vergangenheit. Ob die Einführung von Airbags einen Einfluss auf Art und Schwere der Verletzungen bei Autounfällen hatte, zum Beispiel. Die Daten eigenen sich also gut, um epidemiologische Studien zu machen – aber für das, was uns hier in Berlin vorschwebte, ist das Traumaregister zu oberflächlich. Wir wollen im Rahmen der Trauma Plattform Berlin in die Tiefe gehen können; Fragen beantworten wie die, die wir in unserer gemeinsamen laborchemischen Studie stellen: Wie entwickeln sich Infekt-Labore im Verlauf nach einer Messerstich-Verletzung, kann man da prognostische Marker herausziehen? Daran merken Sie aber auch schon: Das kann man eigentlich nur im kleinen Kreis machen, denn das sind immense Datenmengen, die Sie da erheben müssen – dafür braucht es eine gewisse Motivation, neben den entsprechenden Speicherkapazitäten.

Woher stammt Ihre Motivation – und, soweit Sie für die Kollegen sprechen können, die von Dr. Tobias Topp (CBF), PD Dr. Denis Gümbel (UKB), Prof. Dr. Thomas Fuchs (Vivantes) und Dr. med. Alexander Ringk (Buch), mit denen Sie die Plattform hochziehen?

Wir haben hier in Berlin ein relativ einzigartiges Kollektiv an Patientinnen und Patienten, aus einem Ballungsraum von über viereinhalb Millionen Menschen, mit – leider – auch den entsprechenden sozialen Problemen. Wir sehen über die letzten fünf bis zehn Jahre hinweg eine Zunahme an Aggressionspotenzial, Stichverletzungen, … was man früher aus Filmen kannte, das haben wir jetzt regelhaft da. Es gibt kaum einen Dienst mehr ohne Messerstecherei. Das trifft uns alle, die wir bei Großversorgern in Berlin arbeiten. Mein gefühlter Eindruck ist, dass nach Corona das Gewaltpotenzial noch einmal hochgegangen ist, oder die Hemmschwelle runter. Wenn man es ganz salopp ausdrücken will, dann nehmen Menschen heute, wo sie früher Fäuste genommen haben, ein Messer, und wo sie früher ein Messer genommen haben, nehmen sie eine Schusswaffe.

Wir mussten und müssen uns also neu aufstellen. Daher kommt unsere Motivation. Wieder sehr vereinfacht dargestellt: Die Unfallchirurginnen und -chirurgen haben sich in den letzten zwanzig Jahren mit Knochenbrüchen beschäftigt. Jetzt müssen wir uns plötzlich wieder mit Höhlenverletzungen, penetrierendem Trauma befassen, auch in Hinblick auf die Verletzten aus der Ukraine, die regelmäßig eingeflogen werden. Das sind ganz andere Verletzungsmuster, die andere Standards haben, anders versorgt werden müssen und andere Techniken brauchen. Das waren wir lange nicht gewohnt, jetzt kommt es wieder.

Wo stehen Sie mit der Realisierung des Projekts? Was ist schon geschafft, was steht noch aus?

Das Konzept hinter Trauma Plattform Berlin ist ja ein vielschichtiges und hat drei Säulen: die ärztliche und pflegerische Weiterbildung, die Forschung sowie die Prävention bzw. die Kommunikation von Präventionsmaßnahmen in die Stadtgesellschaft hinein. Wir haben uns zuerst auf den Bereich Forschung konzentriert, weil wir uns in dem Bereich am unabhängigsten vom Vertragswerk und der Juristerei wähnten und direkt loslegen wollten. Zwei Projekte sind abgeschlossen und auch schon publiziert: die genannte laborchemische Studie sowie eine zu Notfallthorakotomien (Eröffnungen des Brustkorbs). Ein drittes und viertes laufen aktuell. Wir generieren sozusagen aus der Forschung heraus die Inhalte für unsere geplanten Präventionstage, die sich an die Bürgerinnen und Bürger richten sollen. Ursprünglich hatten wir diese bereits für das letzte Jahr angedacht, aber die Organisation braucht jetzt doch mehr Zeit, weil wir inzwischen größer denken: Wir möchten jetzt alle Berliner Kliniken über die Katastrophenschutzbeauftragten mit ins Boot holen, damit auch eine möglichst breite Ansprache der Öffentlichkeit gelingt, und darüber hinaus auch den Berliner Senat. Denn wenn wir bei den Punkten Aggressionspotenzial und Messerstichverletzungen bleiben: Das sind ja keine rein medizinischen Probleme, dahinter stehen ja soziale Probleme – somit sind das Themen für die Politik.

Zum Punkt Weiterbildung: Was die Mitarbeiterüberlassungen angeht, gibt es noch letzte juristische Hindernisse. Wir sind aktuell dabei, diese auszuräumen und sind da auf der Zielgeraden, würde ich sagen. Wenn das geschafft ist, können wir in die geplanten Rotationen gehen. Das Trauma Review Meeting, das wir seit 2017 Charité-intern abhalten, halten wir nun monatlich Plattform-weit ab. Es dient der Rekapitulation und dem interkollegialen Diskurs über die gesamte Rettungskette: Was ist im letzten Monat in den beteiligten Häusern an Schwerverletzten reingekommen? Was können wir alle aus diesen Fällen lernen? Wo sehen wir Ansätze zur Verbesserung, zum Beispiel von Abläufen? 

Was noch aussteht, ist die Besetzung einer koordinierenden Stelle in einem zentralen Office der Trauma Plattform Berlin – uns schwebt da eine Study Nurse vor, die auch ein bisschen Lust hat, durch Berlin zu reisen und in allen beteiligten Häusern Präsenz zu zeigen; für alle Ansprechperson zu sein und eben unsere Studien und Rotationen zu koordinieren. Wir haben leider bis dato noch keine Person gefunden, die es machen würde. Weil wir bisher aber auch keine Verstetigung der Finanzierung haben. Eine neuere Entwicklung, die das in näherer Zukunft ändern könnte: Die Unfallchirurgie hier am Campus Virchow-Klinikum ist jetzt G-BA-Traumazentrum!

Gratulation! Was ermöglicht Ihnen dieser neue Status – und gibt es einen Zusammenhang zwischen der Ernennung zum G-BA-Zentrum und Ihrer Arbeit an der Trauma Plattform Berlin?

Als ausgewiesenes G-BA-Traumazentrum haben wir nun die Möglichkeit, Leistungen für andere Kliniken bzw. deren Patientinnen und Patienten zu erbringen und dafür eine Refinanzierung von den Krankenkassen zu erhalten. Wir gehen für Berlin in Leadership, unterstützen andere Häuser zum Beispiel mittels Telemedizin, und wären auch im Katastrophenfall ein für die Region zentrales Haus. Die Grundlage für unsere neuen Aufgaben bilden die Zentrums-Regelungen des Gemeinsamen Bundessausschusses, kurz G-BA. Wesentliche Aspekte, die bei der Ernennung ins Gewicht fielen, waren u. a. die Themen Netzwerkbildung sowie interklinische Fort- und Weiterbildungen. Beides Themen, die wir im Rahmen unserer Arbeit an der Trauma Plattform Berlin schon angegangen sind – dank des Preisgeldes, das wir 2022 von der Stiftung Charité zugesprochen bekommen haben. Das hat uns in eine sehr gute Position gebracht. Die Trauma Plattform Berlin hat gewissermaßen als Pilot die Basis für die G-BA-Bewerbung geschaffen. Das, was wir unter den Großversorgern vor Ort begonnen haben, ist jetzt ganz offiziell unsere Aufgabe als G-BA-Traumazentrum für alle Netzwerk-Kliniken in Berlin. Eine schöne Entwicklung, wie ich finde: im Grunde eine Trauma Plattform 2.0 – die Ausweitung unserer guten Idee und Zusammenarbeit, noch dazu als dauerhafte Struktur. Aber auch diese will erstmalig aufgesetzt werden. Das ist nicht ganz leicht, wie wir schon im Rahmen der Arbeit an der Trauma Plattform Berlin gesehen haben. Die Kooperationsverträge zum Datenaustausch, die wir in dem Kontext geschlossen haben, dienen uns jetzt tatsächlich als Blaupause für die Verträge mit den Netzwerk-Kliniken.

Diese Entwicklung, die Ihre strukturbildenden Aktivitäten genommen haben, freut uns außerordentlich.

Wenn Sie einmal zurückblicken: Wie sind Sie selbst zur Unfallchirurgie gekommen? Hätten Sie gedacht, dass Sie einmal in dem Bereich landen würden?

Kurzum: Ich habe Medizin studiert, um Unfallchirurg zu werden. Das war ein relativ gradliniger Weg. Ich habe bei einem Schwerpunktversorger angefangen und habe dann erst den Weg in die Uniklinik gefunden. Mittlerweile bin ich seit 15 Jahren an der Charité tätig – 2009 kam ich als Weiterbildungsassistent ans Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie. [Märdian lachend:] Um Gottes Willen, bin ich alt!

Und was würden Sie Studierenden raten, die mit der Spezialisierung liebäugeln, sich aber nicht ganz so sicher sind wie Sie damals, dass es das Richtige ist?

Ein grundlegender Hinweis: Orthopädie/Unfallchirurgie ist ein extrem breites Fach, das ist erst 2005 zusammengelegt worden, da sich beide Bereiche mit den muskuloskelettalen Systemen befassen. Bis dahin waren es zwei Fächer. Wenn Studierende hier an der Charité überlegen, in die Unfallchirurgie zu gehen, sollten sie das Wahlpflichtmodul ‚Einsatz- und Katastrophenmedizin‘ belegen. Das haben wir vor Jahren einmal gemeinsam mit der Bundeswehr geplant und aufgesetzt und führen es seitdem jedes Semester durch. Es vermittelt einen guten Einblick. Die Arbeit als Unfallchirurg ist sehr vielseitig. Ich persönlich finde es spannend, dass ich heute noch nicht weiß, welche Art von Verletzung ich morgen operieren muss. Man muss mit dem umgehen, was kommt.

Marike de Vries & Dr. Nina Schmidt / Februar 2024