Spitzenmedizin der Zukunft – Zwischen Recht auf Gesundheit, Ressourcenknappheit und der Freiheit zur Unvernunft

„Leben ist immer – lebensgefährlich,“ schloss Erich Kästner seinen berühmten Aphorismus lakonisch. Der Ausspruch bleibt wahr. Doch wie viel Risiko können, dürfen oder wollen wir uns heute noch erlauben? 

Wo verlaufen im Kontext von bewusst oder unbewusst getroffenen Entscheidungen die Grenzen zwischen dem eigenen Recht auf, oder gar der Verantwortung oder Pflicht zu Gesundheit auf der einen, und der Freiheit zur individuellen Lebensgestaltung auf der anderen Seite? Welche Entscheidungen treffen wir zudem gesellschaftlich bzw. politisch – zum Beispiel, was die Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung betrifft? 

Diese und weitere komplexe Fragen diskutierten wir am 8. April 2025 mit unseren Gästen. Im Rahmen der 16. Berliner Stiftungswoche hatte die Stiftung Charité öffentlichkeitswirksam in die Hörsaalruine des Berliner Medizinhistorischen Museums eingeladen, und die Berliner/innen kamen zahlreich.

Auf dem Podium sprachen Henning Stötefalke (Leiter Hauptstadtbüro, DAK-Gesundheit) und Schriftsteller David Wagner, der als Transplantationspatient Spitzenmedizin am eigenen Leib erfahren hat, mit der Kinderonkologin und Klinikdirektorin Prof. Dr. Angelika Eggert und der Medizinethikerin und Prodekanin Prof. Dr. Susanne Michl, beide Charité – Universitätsmedizin Berlin. Sascha Karberg (Journalist, Der Tagesspiegel) moderierte.

Prof. Dr. Angelika Eggert (Kinderonkologin und Klinikdirektorin, Charité – Universitätsmedizin Berlin) machte im Laufe der Diskussion unter anderem den Präventionsgedanken stark:

„Die Medizin der Zukunft, das ist die Hinwendung zur Gesunderhaltung der Menschen. Wir müssen davon wegkommen erst dann tätig zu werden, wenn Krankheiten schon fortgeschritten und symptomatisch geworden sind. Das ist der einzig gangbare Weg für unsere alternde Gesellschaft. Alles andere ist nicht finanzierbar. Wir haben etwa mit den sogenannten Liquid Biopsies mittlerweile Möglichkeiten an der Hand, Instrumente der Präzisionsdiagnostik, die uns dabei helfen können einzugreifen, bevor Leid entsteht. Aber um das in die breite Fläche an die Noch-nicht-Patientinnen und -Patienten zu kriegen, fehlt uns heute noch die Finanzierung. Prävention wird in unserem System aktuell nur sehr punktuell finanziert.“

Prof. Dr. Susanne Michl (Medizinethikerin und Prodekanin, Charité – Universitätsmedizin Berlin) betonte neben der Spitzenmedizin im Sinne z. B. eines einzelnen technisch hochkomplexen Eingriffs das Davor und Danach des Eingriffs, von der Aufklärung bis zur Reha:

„Spitzenmedizin ist für mich eine sehr bedarfsgerechte, patientenzentrierte Medizin. Jede Therapie an sich ist immer auch eine gewisse Zumutung für die Person, die sie durchläuft. Heilung mag eine Hoffnung sein, aber zuerst nimmt häufig die Lebensqualität ab. Deshalb ist es so wichtig, dass die Patient/innen als Expertinnen und Experten für das eigene Leben selber sagen, welche Bedarfe sie zu welchem bestimmten Zeitpunkt haben, und dass Versorgungskonzepte vorliegen, die gar nicht zwingend kostspielig sein müssen, die aber ganzheitlich gedacht und geplant sind.“ 

Henning Stötefalke (Leiter Hauptstadtbüro, DAK-Gesundheit) blickte systemisch auf die Kosten aktueller Entwicklungen und die Chancen für die Zukunft:

„Wir müssen die Medizin in der Spitze und in der Breite erhalten, und den Zugang zu diesem Spektrum medizinischer Möglichkeiten für alle solidarisch weiterentwickeln. Ich glaube es ist heute nicht mehr richtig, zu behaupten, wir hätten das beste Gesundheitssystem der Welt. Das haben wir nicht mehr – da müssen wir erst wieder hinkommen. Wir beobachten eine unheimliche Verschwendung von Mitteln, wir haben viel zu viele Krankenhäuser, die viel zu viel unspezifische Leistungen erbringen; wir sind bei den Arzneimitteln sicherlich nicht optimal aufgestellt und böse Zungen würden sagen, auch Krankenkassen haben wir zu viele. Aber die Debatte über Leistungskürzungen ist eine extrem unpopuläre. Tatsächliche müssen wir eine solche auch nicht zwingend führen. Besser wäre: zuerst die Effizienzpotenziale heben im System, bevor wir über Verknappung reden.“

David Wagner (Schriftsteller und Transplantationspatient) sprach anschaulich und vor dem Hintergrund der eigenen Krankheitserfahrung über die offenkundigen Grenzen gesellschaftlicher Solidarität in Deutschland:

Mit Geld lässt sich leider nicht alles lösen. Nehmen wir das Beispiel der Transplantationsmedizin: So viele Menschen, die auf ein Organ warten, müssen hierzulande sterben. Es gibt viel zu wenig gespendete Organe. Das hat den Effekt, dass in diesem Bereich natürlich heute schon Triage praktiziert wird. Gerade in der Transplantationsmedizin ist Deutschland leider wirklich nicht spitze. Es gelingt nicht einmal, die Organspende auf ein nur mittleres europäisches Niveau zu heben. Die Einführung der Widerspruchsregelung scheint politisch nicht zu gelingen, dabei ist sie überfällig. Wollen wir immer nur nehmen ohne zu geben? Das sollte sich jede/r Einzelne selbstkritisch fragen.“

Die Expertinnen und Experten diskutierten im Anschluss mit dem Publikum im Saal weiter: u. a. über die künftige Gestaltung des Gesundheitssystems, denkbare Widerspruchslösungen im Kontext von Daten- und Organspenden, den Platz der Palliativmedizin neben der kurativen Medizin, und Zusammenhänge von Bildung und Gesundheit. Neben dem technologisch heute schon Machbaren betonte eine Ärztin aus dem Publikum ihren Anspruch im Arbeitsalltag: „Wir müssen auch menschlich spitze sein!“