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Das Ende der Feierabendforschung – die Zukunft der Clinician Scientists?

Auf der Intensivstation gestaltet es sich durchaus schwierig, eine Pause für ein Interview zu planen. Damit sie jederzeit für Notfälle verfügbar war, besuchten wir BIH Charité Clinician Scientist Wibke Schulte also kurzerhand an der Durchgangsschleuse vor Ort. Als Wahl-Berlinerin, die aus den USA zurück nach Deutschland kam, um Forschung und Klinik kombinieren zu können, hatten wir einige Fragen an sie.

Frau Dr. Schulte, Sie forschen über Sepsis. Die meisten Menschen können sich darunter etwas vorstellen. Wie würden Sie eine Sepsis erklären?

Die meisten Menschen haben den Begriff schon einmal gehört oder kennen die Sepsis als "Blutvergiftung". Sepsis ist eine systemische Entzündungsreaktion, also ein Ungleichgewicht im Immunsystem. Da es keine spezifischen Symptome gibt, muss man aber die Bevölkerung noch mehr aufklären, was es bedeutet, wenn ein Mensch mit einer Sepsis im Krankenhaus liegt. Viele Angehörige können sich darunter nichts vorstellen. Man sollte ihnen erklären, dass es eine schwerwiegende Erkrankung ist und Patienten sich unterschiedlich gut erholen.

Findet die Erkrankung im Klinikalltag genug Beachtung?

Jeder Mediziner hat schon Patienten mit einer Sepsis gesehen – gerade weil sie so verschieden sein kann und es so viele Ursachen gibt. Aber es ist schwierig, eine Sepsis schnell zu erkennen und entsprechend zu therapieren. Momentan arbeite ich auf der Intensivstation, dort ist die Sepsis eine der Haupterkrankungen. Deshalb ist jeder, der eine Zeit auf der Intensivstation verbracht hat, mit der Therapie vertraut. Es gibt Leitlinien und Sepsis-Kampagnen.

Wie lange begleiten Sie in der Regel einen Patienten mit einer Sepsis auf der Intensivstation?

Das kann sehr unterschiedlich sein, manchmal nehmen wir Patienten mit einer Sepsis auf und begleiten sie im besten Fall nur ein bis zwei Tage bis sie stabilisiert sind. Im schlimmsten Fall kann das aber auch mehrere Wochen dauern. Das hängt davon ab, ob noch weitere Komplikationen hinzukommen und wie alt oder vorerkrankt ein Patient ist.

Wie kam es dazu, dass Sie nicht nur in der Klinik arbeiten, sondern auch forschen wollten?

Ich habe zunächst eine experimentelle Doktorarbeit in der Biochemie geschrieben und kam durch meinen Doktorvater in ein Labor an der Yale University, wo ich über mehrere Monate Experimente durchführen konnte. Das motivierte mich, weiter in diese Richtung zu gehen. Nach dem Studium wollte ich also weiterhin in der Forschung arbeiten. Mit einem Forschungsstipendium konnte ich in die USA zurückgehen.

Wibke Schulte

Förderprogramm

BIH Charité Clinician Scientists

Förderzeitraum

2018 bis 2021

Vorhaben

Die Rolle von MIF in der humanen akuten Peritonitis

Fachgebiet

Chirurgie

Institution

Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2017

Assistenzärztin an der Chirurgischen Klinik der Charité – Universitätsmedizin Berlin

2012 bis 2017

Forschungsaufenthalt und klinische Tätigkeit an der Yale University und am Yale-New Haven Hospital, Connecticut, USA

2005 bis 2011

Studium der Humanmedizin und Promotion an der RWTH Aachen

Dort habe ich das Thema aus meiner Doktorarbeit erweitert und am Mausmodell die Rolle eines bestimmten Proteins, einem Zytokin mit dem Namen Macrophage Migration Inhibitory Factor (MIF), in der Bauchfellentzündung beziehungsweise daraus resultierender Sepsis untersucht. Es war eine schöne Forschungsumgebung. Am Yale-New Haven Hospital absolvierte ich auch die ersten Jahre meiner Facharztweiterbildung zur Viszeralchirurgin. In den USA arbeitet man allerdings während einer chirurgischen Assistenzarztzeit 80 Stunden pro Woche. Da bleibt wenig Zeit für Forschung. Aus diesen Gründen entschied ich mich dazu, nach Deutschland zurückzukehren. In Berlin fiel mir das Clinician Scientist-Programm der Stiftung Charité auf, da es sehr gut organisiert und strukturiert ist. Am Virchowklinikum im Forschungshaus gibt es eine große experimentelle chirurgische Forschungsabteilung, dessen Ausstattung meines Erachtens sogar besser als die der chirurgischen Forschungslabore der Yale University. Als Clinician Scientist versuche ich nun, Forschung und Klinik gleichzeitig unter einen Hut zu bringen.

Was genau ist ein Zytokin und wie kommt es, dass Sie über so viele Jahre über dasselbe Protein forschen?

Zytokine sind Proteine, die Antworten des Immunsystems steuern. Das MIF-Protein scheint bei vielen Krankheiten, Infektionen und entzündlichen Prozessen eine Rolle zu spielen. Es gibt knapp 5000 wissenschaftliche Artikel über MIF. Vor kurzem hat mein ehemaliger Doktorvater ein Symposium organisiert, bei dem sich 70 internationale Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler drei Tage lang nur mit dem einen Protein beschäftigt haben. Es gibt also viele Ansätze, die ich noch verfolgen kann.

War für Sie immer klar, dass Sie nicht komplett bei der Grundlagenforschung bleiben würden, sondern es auch einen klinischen Bezug geben muss?

Ja, deshalb habe ich mich auch gegen ein naturwissenschaftliches Studium entschieden. Aus dem Einblick in die Klinik kann man Fragestellungen für Experimente ableiten, andersherum ist das schwieriger. Wenn ein Patient einen septischen Schock hat, denke ich natürlich in erster Linie an sein Überleben. Jedoch gibt es momentan nur symptomatische Therapien für Sepsis, dabei möchte man der Ursache noch mehr auf den Grund gehen um spezifischere Therapien zu entwickeln.

Karrierewege für Clinician Scientists entwickeln sich gerade rasant. Wie erklären Sie sich das?

Schon seit Jahrzehnten haben Mediziner Klinik und Forschung verbunden, jedoch war das immer Feierabendforschung. Mittlerweile ist die Forschung so komplex und es wird so viel publiziert, dass es nicht mehr zielführend ist, nur am Wochenende oder am Feierabend zu forschen. Um sich zu konzentrieren und produktiv zu arbeiten, braucht man wirklich eine Freistellung. Als ich 2011 mein Examen machte, gab es gerade die ersten Clinician Scientist-Programme. Ich hätte mir gewünscht, dass es wie im anglo-amerikanischen Raum auch im Studium bereits ein Programm mit wissenschaftlichem Schwerpunkt gegeben hätte. Dafür hätte ich auch länger studiert. Diese Entwicklung hat in Deutschland in den vergangenen Jahren erst begonnen.

Gibt es etwas, für das Sie neben der Forschung dringend Zeit haben wollen?

Ich nehme gerne an nationalen und internationalen Kongressen teil und verbinde das mit ein paar Tagen Urlaub. Wenn man in der Klinik zusätzlich Wochenend- und Nachtdienste macht, muss man aber aufpassen, dass es nicht zu viel wird und man auch mal Wochenenden in Berlin verbringt (lacht).

Sie wirken trotz des Arbeitspensums recht entspannt. Sind Sie mit sich zufrieden?

Ich bin sehr zufrieden. Es dauert zwar ein bisschen, bis mein Projekt Fahrt annimmt, aber mir gefällt auch die Arbeit auf der Intensivstation sehr. Mein Clinician Scientist Programm begann in der Urlaubszeit, deswegen war es schwierig, früher eine klinische Freistellung zu bekommen. Ende Oktober fliege ich aber zum U.S.-amerikanischen Chirurgenkongress und im November habe ich meinen ersten Forschungsmonat.

Oktober 2018 / MM