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Die Evidenz an erste Stelle stellen – ein Gespräch über die familienbasierte Behandlung von Jugendlichen mit Anorexia nervosa und die Forschung im Team

Als BIH Visiting Professor arbeitet Daniel Le Grange von der University of California, San Francisco, gemeinsam mit Prof. Dr. Christoph U. Correll und Dr. Verena Haas an der Charité – Universitätsmedizin Berlin daran, das sogenannte Family-Based Treatment für junge Menschen mit Anorexia nervosa in Berlin und darüber hinaus zu etablieren und zu evaluieren. Die Stiftung Charité sprach mit den drei Expert/inn/en über ihre Forschung, kulturelle Unterschiede, die Fortschritte, die sie während des Förderzeitraums machen konnten, und ihre Ziele für die Zukunft, in der sie einen Paradigmenwechsel in der Behandlung von Anorexia nervosa in Deutschland anstreben.

Herr Professor Le Grange, als Psychologe versuchen Sie gemeinsam mit der Ernährungswissenschaftlerin Dr. Haas und dem Psychiater Professor Correll, Family-Based Treatment (FBT) für Jugendliche mit Anorexia nervosa in Berlin als eine wirksame Behandlungsoption zu etablieren. Wie läuft es, und wie kam es zu dieser Kollaboration?

Le Grange: Es läuft wirklich gut, danke! Verena, Christoph und ich haben uns in den guten alten Skype-Tagen kennengelernt. Ich war in San Francisco und wir sprachen über die Idee, diesen evidenzbasierten Behandlungsansatz nach Europa zu bringen, genauer gesagt nach Berlin. FBT ist in der angelsächsischen Welt recht gut etabliert und wird dort in allen maßgeblichen Leitlinien als Erstbehandlung empfohlen. Christoph lud mich daraufhin ein, im März 2019 nach Berlin zu kommen, um den ersten FBT-Workshop an der Charité zu geben. Verena und ich hatten uns bereits im Herbst 2018 auf einer Konferenz in Sydney, Australien, kennengelernt, wo ich einerseits sehen konnte, wie entschlossen sie war, FBT in Deutschland einzuführen, andererseits aber auch ihre Skepsis wahrnahm, ob und wie ein so großes Vorhaben gelingen kann. In Deutschland und Europa insgesamt liegt der Schwerpunkt auf der stationären Behandlung und nicht auf der ambulanten.

Daniel Le Grange

Förderprogramm
BIH Visiting Professor

Förderzeitraum
seit 2021

Fachgebiet
Psychiatrie

Vorhaben
Implementierung des Family-Based Treatment für junge Menschen mit Anorexia nervosa in Berlin

Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2014
Professor Emeritus der Psychiatrie. Department of Psychiatry & Behavioral Neuroscience, The University of Chicago

Seit 2014
Benioff UCSF Professor in Children’s Health. Departments of Psychiatry & Pediatrics at the University of California, San Francisco.

Und das Team der Charité wollte die Behandlung derjenigen jungen Menschen, für die dies passend erschien, in den ambulanten Bereich verlagern. Ich bin kein implementation scientist, aber wenn man ein Schiff, das in eine bestimmte Richtung fährt, in eine andere Richtung lenken will, erzeugt das Wellen. Daher haben mich die Bedenken von Verena und anderen hinsichtlich möglicher systemischer Herausforderungen nicht überrascht. 

Als Christoph die vollen zwei Tage dieses ersten Workshops im März 2019 besuchte, war ich sehr überrascht, denn normalerweise hat ein Klinikleiter wie er keine Zeit dafür. Aber er hat sich die Zeit genommen! Das war ein starkes Zeichen. Seitdem befinden wir drei uns auf einer wunderbaren Reise – trotz der Pandemie.

Wir setzten unsere Zusammenarbeit während der Pandemie gut zwei Jahre lang digital fort, bildeten die erste Kohorte von FBT-Klinikern und Klinikerinnen aus und führten dabei eine bahnbrechende Pilotstudie durch – wenn man eine Pilotstudie als bahnbrechend bezeichnen kann.* Aber ich denke, im Kontext des deutschen Gesundheitswesens und der europäischen Ansätze zur Behandlung von Essstörungen ist es wahrscheinlich eine der besten Pilotstudien in diesem Bereich.

Seit März letzten Jahres bilden wir eine zweite Kohorte von Charité-Kolleg/inn/en in FBT aus. Und wir sind jetzt so weit, dass wir nicht nur die zweite Kohorte praktisch ausbilden, sondern auch die Ausbilder/innen, d. h. die Klinikärzte und -ärztinnen, die einen Großteil dieser Arbeit in Zukunft durchführen werden – nicht nur an der Charité, sondern hoffentlich auch in anderen Teilen Deutschlands. Es gibt mir viel zurück, zu sehen, wie sich dieses Interesse im gesamten deutschsprachigen Raum und darüber hinaus ausbreitet.

Wir haben es inzwischen in die letzte Runde eines sehr großen deutschen Förderprogramms geschafft. Wenn diese Finanzierung bewilligt wird, werden wir die größte Behandlungsstudie für Jugendliche mit einer restriktiven Essstörung durchführen können, die es je gab. Wenn die Ergebnisse unserer Pilotstudie, in der für die 60 teilnehmenden Patientinnen und Patienten keine signifikanten Unterschiede zwischen FBT und stationärer Behandlung festzustellen waren, bestätigt werden können, wird das große Veränderungen einleiten. Denn, wie schon erwähnt, wird die stationäre Behandlung in Deutschland bis heute häufig als erste Behandlungswahl angesehen.

Frau Dr. Haas, können Sie beschreiben, warum Sie skeptisch waren, als Sie anfingen, über die Einführung von FBT in Deutschland nachzudenken? Drehten sich Ihre Bedenken um Fragen der Umsetzung – oder um die Wirksamkeit des Ansatzes?

Haas: Im Jahr 2018 besuchte ich Kolleg/inn/en in Sydney, die seit mehr als zehn Jahren FBT durchführten. Das gesamte Team dort ist in FBT geschult, es war der alleinige Fokus des Departments – es wurde nicht mehr hinterfragt. Ich dachte an die Abteilung in Berlin, wo niemand in FBT ausgebildet war und wo man eigentlich noch gar nichts über diese Art der Behandlung wusste. Ich fragte mich, wo ich nach meiner Rückkehr überhaupt anfangen sollte. Das war meine Skepsis; aber wir haben in den letzten vier Jahren große Fortschritte gemacht, und in mancher Hinsicht war es viel einfacher, als ich gedacht hatte. Natürlich stoßen wir auch auf Hindernisse, die wir noch überwinden müssen. Dennoch spüre ich weniger Ablehnung von Seiten der Kliniker und Klinikerinnen, als ich gedacht hatte. Ich dachte, es würde den Leuten viel schwerer fallen, dieses neue Konzept anzunehmen.

Le Grange: Darf ich da einhaken? Ich glaube nämlich nicht, dass das unbedingt nur auf Deutschland zutrifft. Im Bereich der psychischen Gesundheit gibt es eine Denkschule, die die Psychopathologie auf die frühen Beziehungen zu den Eltern zurückführt; diese prägen die psychologische Verfassung eines Menschen. Die ganze, lange Geschichte der psychodynamischen Psychotherapie oder Psychoanalyse legt den Schwerpunkt auf das Individuum, das auf all diese historischen Puzzleteile zurückgreifen soll, die ihm helfen können. Das hat weltweit eine lange Tradition, und so kommt es bei der Behandlung von Anorexia nervosa zu Reibung zwischen dieser Denkschule und einem eher pragmatischen verhaltenstherapeutischen Ansatz, der sagt: Okay, wir müssen hier ins Handeln kommen; dieser junge Mensch verliert jede Woche ein Kilo Körpergewicht. Wir haben es hier mit einer Krankheit zu tun, die lebensbedrohliche Folgen hat. Ich denke, darauf spielt Verena zum Teil an.

Correll: Es ist nicht nur das Kind, auf das so fokussiert wird, sondern auch die Mutter. Wir haben in der Vergangenheit diese schädliche Vorstellung von der psychogenen Mutter als Ursache von Schizophrenie entwickelt, und die hartnäckige Vorstellung, dass schlechte familiäre Beziehungen Anorexia nervosa verursachen, ist ähnlich – und hat viele Eltern sich sehr schuldig fühlen lassen. Daher ist es wichtig, diese Störung zu medikalisieren, sei es durch Genforschung oder die Einführung dieses bahnbrechenden Ansatzes in Deutschland, Österreich und der Schweiz.

Sie fragen sich vielleicht: warum eine weitere Studie zu FBT? Das haben uns auch Gutachter/innen gefragt. Es gibt bereits zehn randomisierte kontrollierte Studien, die den Nutzen von FBT untersuchen. Wir aber führen die erste Studie weltweit durch, die FBT mit stationärer Behandlung vergleicht. Bislang wurde FBT immer mit der ambulanten Versorgung verglichen. Bei der systematischen Durchsicht der Literatur stellte Verena Haas fest, dass die Patientengruppen, die bisher in FBT-Studien untersucht wurden, nicht so untergewichtig oder akut krank sind wie die Patientinnen und Patienten, die in Deutschland stationär behandelt werden. Die Reaktion von Leitungen stationärer Einrichtungen hierzulande war daher zu Recht: Das sind tolle Erkenntnisse, aber sie treffen nicht auf unsere Patient/inn/en zu. Unsere Patientinnen und Patienten mit Anorexia nervosa, die stationär behandelt werden müssen, sind sehr krank, einige sind vom Tod bedroht. Deshalb ist diese Pilotstudie so einzigartig, weil wir eine ähnliche Kohorte von Patient/inn/en einschließen konnten; Personen, die sonst in unserem Gesundheitssystem stationär aufgenommen worden wären.

Le Grange: Um zu ergänzen, was Christoph über verbreitete Denkweisen gesagt hat und zu dem Punkt, dass den Eltern die Schuld gegeben wird, vor allem der Mutter: Die Folge ist, dass die Eltern aus dem Behandlungsprozess ausgeschlossen werden, egal ob es sich um Schizophrenie, Autismus oder eben um eine Essstörung handelt. Einfach ausgedrückt: Die Eltern sind schuld und sie sind schlechte Menschen. Also nimmt man das Kind in ein Krankenhaus auf, um es von diesen schlechten Menschen zu trennen, die die Psychopathologie verursacht haben. FBT kehrt den Spieß um und betont, dass das nicht hilfreich ist. Es gibt keine Evidenz für diesen Modus Operandi. Die Eltern sind genau genommen die beste Ressource, und deshalb konzentriert sich die Behandlung so sehr darauf, ihnen zu helfen herauszufinden, wie sie ihre Kinder unterstützen können. Das Ziel ist, junge Menschen aus dem Krankenhaus herauszuhalten.

Dennoch wäre es aus klinischer Sicht naiv zu glauben, dass man jedes Kind aus dem Krankenhaus heraushalten kann. Es gibt Kohorten, die auf Station bleiben müssen: Dazu zählen diejenigen, die medizinisch instabil sind, aber auch diejenigen, die psychiatrisch instabil sind. Letzteren geht es vielleicht vom Gewicht her in Ordnung, aber sie sind akut selbstmordgefährdet, verletzen sich selbst oder scheitern in der ambulanten Behandlung in dem Sinne, dass sie dort keine Fortschritte machen. Eine beträchtliche Anzahl von Kindern, bei denen Anorexia nervosa diagnostiziert wurde, kann und sollte jedoch ambulant behandelt werden, mit den Eltern als zentralen Figuren im Genesungsprozess. Wir müssen also herausfinden, wer stationär und wer ambulant behandelt werden sollte. Wir tun dies auf der Grundlage bestimmter klinischer Parameter bei der Erstvorstellung und auch später: Wer ambulant innerhalb eines bestimmten Zeitraums bestimmte Kriterien nicht erfüllt, muss möglicherweise vorübergehend auf Station.

Das Feld ist noch nicht ausgereift genug, um den Patienten bzw. die Patientin und die genaue Art der Behandlung besser aufeinander abzustimmen. Im Gesundheitssystem wird jedem das Gleiche aufgedrückt. Ich möchte klarstellen, dass ich nicht finde, dass FBT allen aufgedrückt werden sollte, sonst würde ich denselben Fehler machen wie die Befürworter/innen stationärer Behandlung. Aber ich weiß, dass Eltern wie Kinder es verdienen, dass wir bei der Wahl und Durchführung der jeweiligen Behandlung klüger vorgehen. Die Pilotstudie weist uns bereits in diese Richtung, aber die größere Studie, die wir planen, wird es uns ermöglichen, bei diesem Entscheidungsprozess in Zukunft viel differenzierter vorzugehen.

Correll: Etwas, mit dem wir uns in Deutschland im Moment schwertun, ist ein gewisses Maß an Flexibilität bei der Behandlung. Ein an Anorexia nervosa erkranktes Mädchen im Teenageralter sollte vielleicht am besten für kurze Zeit stationär behandelt werden, um sie medizinisch zu stabilisieren. Dann kehrt sie in ihre gewohnte Umgebung zurück, wo sie gesundet und einfach lebt, anstatt dass man sie auf Station stabilisiert, von wo man sie in ein ambulantes Umfeld entlässt, in dem ihre Eltern nicht wissen, wie sie mit ihrem Essverhalten umgehen sollen und wo die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls größer ist. Aber in der Pädiatrie gibt es diese flexiblen Betten nicht. Sie sind dort überlastet mit Patientinnen und Patienten mit anderen Problemen und müssen Patient/inn/en mit Anorexia nervosa möglicherweise zu früh entlassen. Und dann kann es sein, dass die derzeit verfügbare ambulante Betreuung, die nicht aus FBT besteht, nicht ausreicht. Das ist ein Dilemma.

Professor Le Grange, könnten Sie unseren Leserinnen und Lesern bitte die drei Phasen des Family-Based Treatment erklären?

Le Grange: Ich werde Ihnen mehr als nur den elevator pitch geben – aber mit dem fange ich an: FBT hilft den Eltern, das zu tun, was Krankenpfleger/innen getan hätten, wenn ihr Kind für seine Essstörung eingewiesen und auf eine Spezialstation gebracht worden wäre. Im Grunde hilft FBT den Eltern, das zu tun, was Eltern gut können, nämlich sich um ihre Kinder kümmern. Ich glaube, dass die meisten anderen Krankheitsbilder Eltern nicht in dem Maße dazu bringen, ihre eigenen Fähigkeiten in Frage zu stellen, wie eine solches, das darauf hinausläuft, dass ihr Kind nicht isst. Diese Eltern haben das Gefühl, dass sie in einem Bereich versagt haben, in dem so gut wie alle anderen Eltern erfolgreich sind, nämlich bei der Ernährung ihres Kindes.

Essstörungen sind ich-syntone Störungen; das heißt, dass der junge Mensch die Krankheit verteidigt und nicht erkennt, wie schlecht es ihm geht. Und bei den Eltern verfängt diese Sichtweise leider auch oft, wie auch bei vielen Klinikern und Klinikerinnen. Sie erkennen nicht, dass diese junge Person nicht ganz versteht, was ihr passiert und wie sehr sie ihr Leben in Gefahr bringt.

Bei FBT geht es in erster Linie darum, dass die Eltern einen gleichermaßen hartnäckigen wie unterstützenden Weg finden, sicherzustellen, dass ihr Kind isst, was es essen muss, um sich ernährungsmedizinisch zu erholen. Mit der Besserung des Gewichts geht eine kognitive Besserung einher. Das ist die erste Phase. In der zweiten Phase der Behandlung tritt der oder die Jugendliche wieder in die für ihn bzw. sie altersangemessene Entwicklung ein. In der dritten Behandlungsphase geht es dann – frei von Belastungen durch die Essstörung – um die Beziehungen des jungen Menschen zu seinen Eltern und zu Gleichaltrigen.

In der ersten Phase unterstützen wir die Eltern auf sehr verhaltensorientierte Weise dabei, herauszufinden, welche Menge an Essen nötig ist, damit jemand etwa ein Kilo pro Woche zunimmt. Wie unterstützt man den Teenager, der sagen wird: „Nein, nichts davon werde ich tun“? Hier braucht es eine sehr verhaltensorientierte, unterstützende Strategie sowohl für den jungen Menschen als auch für die Eltern. Die Art und Weise, wie ich das jetzt beschrieben habe, klingt ein wenig schematisch. Das sollte das Vorgehen genau nicht sein, es sollte an den Kontext der Familie angepasst werden, die hier zu kämpfen hat. Es gibt eine ganze Reihe von Faktoren, die ihr im Prozess der Gewichtszunahme entweder helfen oder sie zurückwerfen werden. Wenn jemand anfangs bei etwa 80 % des mittleren Body-Mass-Index (BMI) steht, beginnt sich das Denken der Person in der Regel bei etwa 90 % des mittleren BMI zu erholen bzw. zu verändern. Der Teenager ist dann wieder in der Lage, unter elterlicher Aufsicht einige Entscheidungen selbst zu treffen. Damit sind wir in der zweiten Phase: hier versuchen wir, dem jungen Menschen die Steuerung über sein Essverhalten in einer altersgerechten Weise zurückzugeben und ihn wieder in eine Gruppe Gleichaltriger einzuführen, aus der er sich zurückziehen musste, als es ihm schlecht ging. Die Eltern müssen ihr Kind an beides heranführen. Wenn man in diesen Bereichen deutliche Fortschritte erzielt hat, erreicht man die dritte Behandlungsphase, in der man sich auf den Bereich der jugendlichen Entwicklung jenseits der Essstörung konzentriert. Inwieweit ist der Teenager auf diese weitere Zeit des Wachstums und der Entwicklung vorbereitet? Sie wird nicht frei von Problemen sein, denn Adoleszenz ist nicht problemlos, aber im Idealfall sind die Jugendlichen dann physiologisch und psychologisch viel besser in der Lage, alterstypisch schwierige Phasen durchzustehen – in die sich die Eltern dem Alter des Kindes entsprechend einbringen. Das wäre meine kurze Zusammenfassung.

Vielen Dank. Das klingt so ganzheitlich und scheint sehr sinnvoll. Und doch können Sie ja nicht einfach sagen: „Lasst uns das Gesundheitssystem so umstrukturieren, dass die Behandlung endlich funktioniert, wie sie sollte“ – oder etwa doch?

Correll: In Deutschland erstatten die Krankenkassen derzeit nur zwei Arten der Behandlung, und zwar die kognitive Verhaltenstherapie oder die psychoanalytisch/ psychodynamisch orientierte Therapie. FBT wird nicht erstattet. Was wir also versuchen, und die Gelegenheit hat man tatsächlich sehr selten in seinem akademischen Leben, ist eine Studie durchzuführen, die zu einer Änderung der Richtlinien führt, sodass FBT neuer Standard wird – und zwar nicht nur auf dem Papier, sondern in der Praxis. Die Behandlung muss erstattungsfähig werden. Das ist auch der Grund, warum der bereits erwähnte Innovationsfonds-Antrag für uns so wichtig ist. Die Versicherer arbeiten jetzt sehr eng mit Verena Haas zusammen, um diese 5- oder 6-Millionen-Euro-Studie Realität werden zu lassen.

Unsere Daumen sind gedrückt!

Nun sind Essstörungen allgegenwärtig. Wir wissen, dass die Prävalenz vor allem bei Frauen und Teenagern hoch ist, und wir haben bestimmte – vielleicht falsche oder klischeehafte – Vorstellungen davon, wer gefährdet ist, magersüchtig zu werden, oder wie sich die Krankheit entwickelt. Was würden Sie sagen, sind die drei am wenigsten bekannten Fakten über Essstörungen oder Anorexia nervosa im Besonderen? Was stört Sie am meisten?

Le Grange: Was mich am meisten ärgert, ist wahrscheinlich die mangelnde Bereitschaft in vielen Teilen unseres Forschungsfeldes, sich ernsthaft auf die wissenschaftlichen Daten einzulassen. Damit will ich in keinster Weise sagen, dass FBT uneingeschränkt oder als einzig gangbarer Weg unterstützt werden muss. Aber FBT ist einfach die stärkste evidenzbasierte Behandlung zum jetzigen Zeitpunkt. Ich hoffe, dass irgendwann ein Punkt erreicht ist, an dem es drei oder vier starke Behandlungsformen mit soliden Forschungsergebnissen gibt, sodass wir die Behandlung, die wir den Patient/inn/en anbieten, intelligenter ausgestalten und besser auf den Einzelnen abstimmen können. Leider sind wir als Fachleute für Essstörungen oft nicht bereit, uns wissenschaftlich erhobenen Fakten zu öffnen.

Ich möchte die Kollegen und Kolleginnen auch ermutigen, nicht immer zu versuchen, das Rad neu zu erfinden. Das zu beobachten kann ein bisschen frustrierend sein. Als Beispiel: Wir müssen nicht zu Beginn einer jeden Studie neu definieren, was wir unter Remission verstehen. Auch wenn frühere Definitionen vielleicht nicht perfekt sind, können wir die Ergebnisse verschiedener Studien wenigstens vergleichen, wenn wir die gleichen Definitionen nutzen. Und, zu guter Letzt: Die Forschung zu Essstörungen ist nur sehr langsam auf den neurowissenschaftlichen Zug aufgesprungen. Ich glaube, dass es die Neurowissenschaften sind, die uns helfen werden, diese Hirnstörung besser zu verstehen als wir es heute tun. Es kann frustrierend sein, Essstörungen als multifaktoriell zu bezeichnen, ohne im Detail erklären zu können, welche Faktoren dazu beitragen, dass eine Person eine Essstörung entwickelt.

Haas: Was mich am meisten stört, sind Personen, die sehr einfache und alleingültige Erklärungen für den Ursprung einer Essstörung hervorbringen. Ich bin Menschen begegnet, die behauptet haben: „Oh, das ist ein Autonomiekonflikt“, oder „Es liegt eindeutig an der Mutter“.

Le Grange: Ja, da stimme ich zu. Die Leute sagen Sachen wie: „Es geht nur um Kontrolle“, oder „Es ist Zink, du brauchst Zinkpräparate“.

Haas: Ja! Die Menschen scheinen sich diese eine Erklärung zu wünschen. Aber die Sache ist so viel komplexer.

Correll: Ich nähere mich dieser Frage als Präventionswissenschaftler. Ursprünglich bin ich Psychiater für Erwachsene und habe mich dann zusätzlich in der Kinder- und Jugendpsychiatrie spezialisiert, um Psychosen und Manien zu verhindern. Und jetzt bin ich auch sehr an der Prävention von Anorexia nervosa interessiert. Ich frage also: Wo ist der Übergang vom Unwohlsein und Kampf mit dem eigenen Gewicht, von Diäten und der Besessenheit, schlank zu sein – denn all das ist heute kulturell verankert – zur Entwicklung von Anorexia nervosa? Es gibt eine Verbindung zwischen Anorexia nervosa und Psychosen. Bei der Psychose gibt es einen ich-syntonen Anteil: „Ich bin nicht krank, du bist krank.“ Da ist das FBI, das mein Gehirn austauschen will. Patienten und Patientinnen mit Anorexia nervosa denken auch nicht, dass sie krank sind.

Kliniker/innen, die mit Patient/inn/en mit Anorexia nervosa zu tun haben, verwenden diesen Schnurtest. Man bittet die Patientin bzw. den Patienten, eine Schnur um ihre vermeintliche Körperform zu legen, und lässt sie hineintreten. Es offenbart sich ein riesiger Unterschied zwischen dem großen Kreis und dem kleinen Körper – und trotzdem fühlen die Patient/inn/en sich dick. Es gibt also diese Verschiebung im Denken. Wo fängt die an, wahnhaft zu werden, und wie können wir diese Entwicklung verhindern? Hier fehlt uns noch Wissen, und das ist es, was mich stört. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass Verena Haas sich auch mit dem erhöhten Bewegungsdrang von Patient/inn/en mit Anorexia nervosa beschäftigt. Die Krankheit hat also auch eine körperliche Komponente. Dieses körperliche Leiden ist vielen Menschen nicht bewusst, denke ich.

Vielen Dank für diese wichtigen Einblicke – vielleicht ein Aufruf an uns alle, die Komplexität der Krankheit wie auch ihrer Erforschung nicht zu vergessen.

Zoomen wir ein wenig heraus: Wenn man sich Ihre Forschungsprofile und Lebensläufe anschaut, kann man nicht umhin zu bemerken, wie weltumspannend Ihrer aller Wege waren. Inwiefern haben Ihre Forschungsaufenthalte im Ausland Ihre Laufbahn geprägt, Ihrer Forschung Impulse gegeben und Sie vielleicht sogar als Menschen geprägt?

Le Grange: Als ich 1986 zum ersten Mal Südafrika verließ, um nach London zu gehen, war mir nicht klar, dass ich zur richtigen Zeit am richtigen Ort gelandet war. Ich wollte nach London, weil ich zu Gerald Russell wollte – der so etwas wie der Vater der Essstörungsforschung in der modernen englischsprachigen Welt war, hundert Jahre nachdem Anorexia nervosa zum ersten Mal beschrieben wurde. Ich wollte also dorthin gehen und dort arbeiten, aber ich ahnte nicht, wie sehr mir das die Tür zu einer Karriere öffnen würde, die mich wirklich überall hingeführt hat, wo ich schon immer hinwollte. Ich habe bei meiner Arbeit wunderbare Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Ich hoffe, dass ich ein wenig von dem Wissen weitergeben kann, das ich auf meinem Weg angesammelt habe, denn ich habe viel gelernt, sei es in Berlin an der Charité oder im Royal Children’s Hospital in Melbourne. Denn die Menschen kommen mit unterschiedlichen Fragen und unterschiedlichen Perspektiven, und das hält einen demütig und auf Trab. Demut ist eine Eigenschaft, die ich gerne pflege. Ich versuche auch, mich selbst nie zu ernst zu nehmen und über mich selbst zu lachen.

Haas: Meine Antwort fällt sehr kurz aus. Hätte ich nicht in Sydney promoviert – wenn auch zu einem ganz anderen Thema –, würden wir heute nicht hier sitzen und uns unterhalten. Ich habe damals fast nebenbei von FBT erfahren. Als ich in Sydney war, habe ich mich auf die Grundlagenforschung konzentriert, auf den Stoffwechsel, Hormone etc. bei Essstörungen, und ich dachte nur, warum sind die Kinder und Jugendlichen eigentlich nur drei, vier oder fünf Wochen im Krankenhaus? Das hatte ich in Deutschland anders gelernt, wo die Behandlung im Krankenhaus in der Regel etwa vier Monate dauert. Dass ich in ein anderes Land gereist bin und dort gearbeitet habe, ist also tatsächlich der Grund, warum wir heute hier sind. Was mich zu dem Gedanken führt: Wenn man einen von uns dreien wegnimmt, würde dieses Projekt nicht funktionieren.

Correll: Dem stimme ich voll und ganz zu – auch wenn ich betonen möchte, wie viel des Lobes dir gebührt, Verena Haas. Und ja, Reisen erweitert unseren Horizont. Wenn man sein System verlässt, kann man es mit anderen Augen betrachten und erkennen, dass es mehr als einen Weg gibt, die Dinge anzugehen. Man lernt beständig dazu und wird bereichert. Ich wollte nur für vier Jahre in die USA gehen, jetzt sind es schon 25. Ich habe 20 Jahre lang vollständig dort gelebt. Ich dachte, ich forsche ein bisschen und komme zurück. Mein Weg war so bereichernd, auf persönlicher wie akademischer Ebene.

Februar 2023 / Dr. Nina Schmidt

 

*Gefördert wurde die Pilotstudie auch von BILD hilft e.V. „Ein Herz für Kinder“ (Projekt-Nr. PÄ-39691 und MED-49388).