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Das Methodengewissen der Medizin

Mit der Berufung von Daniel Strech als Professor für Translationale Bioethik setzen die Lebenswissenschaften in Berlin ein Signal für die Qualitätssicherung in der medizinischen Forschung. Seine Arbeitsgruppe sitzt am Quest Center for Transforming Biomedical Research, das die Qualität und den Nutzen der biomedizinischen Forschung erhöhen soll. Wo und wie die Qualität und der Nutzen konkret erhöht werden sollen und warum sich gerade Berlin als Knotenpunkt für ein solches Thema anbietet, hat uns Daniel Strech im Gespräch erzählt.  

Herr Professor Strech, nach der Approbation als Arzt sind Sie schnell zur Medizinethik gekommen. Gab es ein bestimmtes Ereignis, bei dem Sie dachten: Mensch, das ist unethisch...?

Ich habe an einer Campusuniversität studiert, dort konnte man zwischen den Kursen nicht nach Hause fahren. Also ging ich neben dem Medizinstudium parallel zu Philosophievorlesungen und schrieb auch meine Doktorarbeit bei einem Professor der philosophischen Fakultät. In der Klinik fehlte mir später diese Perspektive, dabei gibt es viele für die Praxis relevante Themen. Mich hat zum Beispiel besonders die Bewegung für evidenzbasierte Medizin interessiert. Ein für mich prägendes Ereignis war die Lektüre eines Buches, kurz nach meinem Staatsexamen, zum Thema Krebsfrüherkennung. Ich habe es als unethisch empfunden, dass wir zu wenig über die Qualität der Informationen nachdenken, auf deren Basis wir wichtige Entscheidungen treffen, in der Krebsfrüherkennung aber auch in anderen Bereichen der Medizin. Oft sind diese Informationen leider verzerrt oder wenig robust. In der Medizin und auch in der Krebsfrüherkennung hat sich über die letzten 20 Jahre viel getan hin zu besser evidenzbasierten Entscheidungen. In der translationalen Forschung selber fehlt dieser kritische und verantwortungsvolle Umgang mit Evidenz aber an vielen Stellen noch.

Was kann man sich darunter vorstellen, können Sie einen konkreten Fall nennen?

Ein sehr wichtiger Beitrag der Forschung zu möglichst wenig verzerrter Evidenz wäre eine zeitnahe und gut wiederverwertbare Veröffentlichung aller Forschungsergebnisse. Oft aber werden Forschungsergebnisse leider gar nicht oder nur selektiv veröffentlicht. Für dieses Problem gibt es verschiedene Lösungsansätze, an denen wir arbeiten. Es gibt zum Beispiel schon länger die Initiative, dass Forscher innerhalb von zwölf Monaten die Kernergebnisse aus Studien an Menschen in der Datenbank bereitstellen sollen, in der sie ihre Studie initial registrieren mussten. Viele glauben jedoch, sie könnten die Ergebnisse später nicht mehr in angesehenen Fachzeitschriften publizieren, wenn sie bereits im Register verfügbar sind. Dabei haben sich die Fachzeitschriften längst zu dem Konzept bekannt. Das Hochladen der zusammengefassten Ergebnisse würde nicht mehr als ein bis zwei Stunden dauern, doch kaum jemand macht es. Also weiß man durch die Register heutzutage zwar, welche Studien es gibt, aber man kennt von vielen die Ergebnisse nicht. Dabei wäre dies ein großer Mehrwert für die Forschung und die Patientenversorgung. Die Idee hinter dem QUEST-Zentrum ist es, empirisch die aktuelle Situation zu untersuchen, und die Wichtigkeit solcher Initiativen zu kommunizieren. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt, dass Ergebnisse aus der klinischen Forschung innerhalb von zwei Jahren nach Studienende publiziert sein sollten. Das schaffen zurzeit gerade einmal 40 Prozent der klinischen Forscher in Deutschland.

Erfüllt man in der Bioethik automatisch die Rolle des "schlechten Gewissens der Medizin"?

Daniel Strech

Förderprogramm

Recruiting Grant

Förderzeitraum

2018 bis 2022

Fachgebiet

Medizinethik

Titel

Professur für Translationale Bioethik

Institution

Charité – Universitätsmedizin Berlin und Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH)

 

Seit 2018

Professur für Translationale Bioethik am Berliner Institut für Gesundheitsforschung (BIH) und an der Charité – Universitätsmedizin Berlin

2014 bis 2018

Heisenberg-Professur für „Ethik und Governance in der biomedizinischen Forschung und Innovation“, Institut für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin, Medizinische Hochschule Hannover

2011

Habilitation, „Konzept und Ergebnisse einer evidenzbasierten Ethik der ärztlichen Rationierung“, Venia Legendi „Ethik und Theorie in Medizin und Public Health“, Medizinische Hochschule Hannover

Schlechtes Gewissen mag manchmal die Konsequenz sein, wenn man sich selbstkritisch mit der gegenwärtig unzureichenden Umsetzung ethischer Prinzipien in der Forschung beschäftigt. Aber die Rolle der Bioethik sehe ich natürlich viel konstruktiver. Daher würde ich es eher als Methodengewissen oder Werthaltigkeitsgewissen bezeichnen. Zunächst ist die Bioethik ein Vehikel, das uns Forschung überhaupt erlaubt. Die Gesellschaft duldet und finanziert nur ethische Forschung. Die Art von translationaler Bioethik, die wir in meiner Arbeitsgruppe umsetzen, zielt darauf, die Umsetzung von gesellschaftlich akzeptierten ethischen Prinzipien in die Forschungspraxis zu fördern. Es geht nicht darum, sofort Sanktionen zu verhängen oder neue Gesetze zu verabschieden. Vielmehr müssen ethische Rahmenbedingungen geschaffen werden, die für die medizinische Forschung praktikabel sind. Zum Beispiel müsste es im Rahmen der wissenschaftlichen Karriere belohnt werden, wenn man nicht nur einige, sondern alle eigenen Forschungsergebnisse veröffentlicht. Aber diese Rahmenbedingung haben wir gegenwärtig nicht. Im Gegenteil, belohnt werden vor allem Veröffentlichungen in solchen Fachzeitschriften mit hohen Impact-Faktoren, die in der Regel positive und aufsehenerregende Ergebnisse publizieren. Das ist ein zentraler Punkt, warum viele Forschungsergebnisse in der Schublade verschwinden. Aber nur ein vollständiges, unverzerrtes Bild aller Forschungsergebnisse würde uns eine evidenz-basierte Forschung erlauben. Am besten wäre es, wenn Forschende solche Aufgaben selbst übernehmen oder zumindest in unseren QUEST Projekten aktiv mitwirken. Sie können die Praxisbarrieren viel besser einschätzen. Daher diskutieren wir anhand unserer Ergebnisse mit ihnen zusammen, wie mögliche Empfehlungen aussähen.

Ein Schritt für Qualitäts-orientierte Rahmenbedingungen wäre eine wertebasierte Mittelvergabe zusätzlich zur etablierten Leistungsorientierung. In den Berufungsverfahren der Charité wird es Anwärterinnen und Anwärtern bereits positiv angerechnet, wenn sie Studien zeitnah veröffentlichen oder die Kernergebnisse hochladen. Impact-Faktoren und Drittmittel sind dort aber auch weiterhin relevant.

Sie arbeiten mit Politikern, Klinikern und Patienten. Wie sieht diese Zusammenarbeit konkret aus?

Meistens folgt im Anschluss an eigene empirische Studien zum Status quo die Stakeholderforschung. Zusammen mit den verschiedenen Akteursgruppen besprechen wir, wie man etwas in der Praxis optimieren kann. Manchmal ist die Zusammenarbeit auch bereits Teil der Datenerhebung, zum Beispiel in der Interviewforschung. Ein großes Thema sind Register für Tierstudien. Wie kann man den Wert der Tierforschung und die Veröffentlichung von Ergebnissen erhöhen? Wir versuchen, Antworten möglichst evidenzbasiert und partizipativ zu finden. In zwanzig Tiefeninterviews und Hunderten von Fragebogenerhebungen haben wir Forschende, Unternehmer, Politiker und Aktivisten befragt. Daraus erstellen wir ein Spektrum an potenziellen Lösungsmöglichkeiten. So kommen wir jeden Tag mit den Akteuren zusammen, wenn auch nicht immer persönlich.

Die Debatte über Tierversuche erscheint aktuell ziemlich hitzig, mit teilweise fast unversöhnlich scheinenden Positionen. Gibt es ein Kommunikationsproblem?

Hier wäre meine Antwort zweiteilig. Zum einen gab es ein Kommunikationsproblem dahingehend, dass von der Wissenschaft selber zu wenig über den Nutzen von Tierforschung für die Medizin und über die hohen Standards zum Schutz der Versuchstiere kommuniziert wurde. Dieses Problem wurde in den letzten Jahren durch verschiedene Initiativen verbessert. Ein zweites leider noch fortbestehendes Kommunikationsproblem besteht darin, dass zu wenig die Validität und das Publikationsverhalten bei Tierversuchen thematisiert werden. Dabei sagt selbst die Industrie, dass sie Ergebnissen aus der akademischen Tierforschung oft nicht vertraue. Fast alle Publikationen sind positiv und die Methoden oftmals fragwürdig, selten wird randomisiert und die Ergebniserhebung geschieht oft nicht blind. In Deutschland sagt das Gesetz, dass Tieren nicht geschadet und an ihnen nicht geforscht werden soll, wenn es nicht einen eindeutigen Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft und mögliche Verbesserungen in der Patientenversorgung gibt. Wenn man dies nicht ermöglicht, indem man die Ergebnisse nicht veröffentlicht, ist der Deal eigentlich rückwirkend geplatzt.

Welche Faktoren spielten bei Ihrer Entscheidung, nach Berlin zu kommen, eine Rolle?

Für mich gibt es momentan keine bessere Stelle. Kein anderer Standort in Deutschland setzt sich die Förderung der Werthaltigkeit von Forschung so klar zum Schwerpunkt. Seit 2004 ist Ethik zwar Pflichtfach an allen medizinischen Hochschulen, wird aber in der Regel nur durch ein bis zwei Personen vertreten. Mit dem Aufbau meiner Arbeitsgruppe setzen die Charité und das BIH einen noch klareren Fokus auf die Qualitätssicherung in der Forschung. Hinzu kommen die Interdisziplinarität und die Einbindung in ein Institut wie QUEST, an dem neben meiner Ethik-Arbeitsgruppe auch weitere Experten für Qualitätsförderung in der Tierforschung, Data Science und Anreizsysteme arbeiten. Darüber hinaus beschäftigen die Berliner Universitäten und weitere nicht-universitären Einrichtungen führende Experten in wissenschaftlichen Bereichen, die im Hinblick auf die Methodik eine wichtige Peer-Group darstellen: die Sozialwissenschaften oder die Hochschulforschung. Das QUEST in enger Kooperation mit all diesen anderen Akteuren, das gibt es so kein zweites Mal in Europa.

Vor zehn Jahren zogen Sie aufgrund einer Berufung von Berlin nach Hannover. Nun sind Sie wieder zurück in der Hauptstadt. Wie hat sich Berlin in Ihren Augen verändert?

Was den wissenschaftlichen Bereich betrifft, wurde viel renoviert. Das BIH und viele neue Charité-Bauten gab es damals noch gar nicht. Meine Frau hat in den 1990ern mitbekommen, wie sich ganze Stadtbezirke komplett erneuerten; als wir vor zehn Jahren aus Berlin wegzogen, waren die großen Bauvorhaben schon im Gange. Es ist also nicht so, als würde ich heute die Stadt kaum wiedererkennen. Auch wenn Jens Spahn behauptet, er könne seinen Kaffee nicht mehr auf Deutsch bestellen – das ist mir noch nicht passiert.

Man könnte es aber auch positiv sehen und sagen: Berlin ist jetzt internationaler und das betrifft auch die Forschung.

Im Vergleich zu anderen deutschen Zentren ist mir in den wenigen Wochen seit meiner Rückkehr schon aufgefallen, dass wir hier sehr international arbeiten. Zwar war dies auch in meiner und einigen anderen Arbeitsgruppen in Hannover der Fall, allerdings war das dort eher die Ausnahme – hier ist es selbstverständlich. Wir haben hier Kooperationen und auch personellen Austausch mit Oxford, Utrecht, Stanford, Bristol und Edinburgh. Tatsächlich war das auch ein wichtiger Faktor, der mich bewog, nach Berlin zu kommen.

Dann sind wir gespannt, welche Synergien sich in den nächsten Jahren daraus ergeben und wünschen Ihrer neu gegründeten Arbeitsgruppe viel Erfolg dabei, die ethischen Rahmenbedingungen für die Forschung praktikabler zu machen.

September 2018 / MM