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Schachspiel gegen einen unsichtbaren Gegner – mit vereinten Kräften gegen das Neuroblastom

Als Einstein BIH Visiting Fellow reist Professor Versteeg regelmäßig von seinem Labor in Amsterdam nach Berlin, um mit Professorin Angelika Eggert und ihrem Team an der Klinik für Pädiatrie mit Schwerpunkt Onkologie und Hämatologie der Charité zusammenzuarbeiten. Beide haben ihre Kräfte und jahrelange Expertise in dieser speziellen bilateralen Kollaboration gebündelt, um neue Lösungen im Kampf gegen das Neuroblastom, der dritthäufigsten Krebsart bei Kindern, zu entwickeln. Wir hatten das Vergnügen, Professor Versteeg bei seinem ersten Berlinaufenthalt zu treffen und mit ihm und Professor Eggert über den Beginn einer 20-jährigen Freundschaft, ihr Engagement in der Behandlung des Neuroblastoms und ihre persönliche Motivation zu sprechen.

Prof. Versteeg, Sie und Prof. Eggert [sie wird gleich dazukommen] forschen schon seit vielen Jahren zum Neuroblastom. Nun arbeiten Sie beide gemeinsam in Berlin. Wie haben Sie beide sich eigentlich kennengelernt?

Versteeg: Wir haben uns vor über 20 Jahren in Philadelphia, USA, auf einer großen internationalen Konferenz zur Neuroblastom-Forschung zum ersten Mal getroffen. Damals kannte ich Angelika noch nicht. Ich hörte sie dort einige sehr gute Vorträge halten, aber das erste Mal sprach ich erst nach der Konferenz mit ihr. Ich saß im Flugzeug auf dem Weg zurück nach Amsterdam. Es war kurz vor dem Abflug und ich war froh, dass der Platz neben mir frei blieb und ich so etwas mehr Platz für mich auf dem langen Flug haben würde. Er lächelt. Plötzlich, in der letzten Minute, ging die Tür noch einmal auf und eine Frau stieg ein. Es war Angelika – und sie setzte sich auf den freien Platz neben mir. Wir begannen, uns zu unterhalten, und verstanden uns auf Anhieb. Das war der Beginn unserer Freundschaft. Obwohl ich auf dem Flug letztlich weniger Platz hatte als erhofft, habe ich die lange Rückreise sehr genossen. Er lacht.

Angelika Eggert kommt herein.

Versteeg: Angelika, ich habe gerade erzählt, wie wir uns in diesem Flugzeug kennengelernt haben.

Beide lachen.

Versteeg: Wir beide arbeiten schon seit vielen Jahren zusammen.

Eggert: Fast 20 Jahre.

Versteeg: Vor 20 Jahren war es extrem schwierig diesen Tumor zu verstehen. Wie studierten nicht etwa ein Mausmodell oder ein isoliertes Problem wie den Zellzyklus oder ein molekulares Prinzip. Nein, wir studierten den Tumor selbst und konnten ihn einfach nicht greifen und verstehen. Wir waren deshalb ständig zur fortschrittlichsten Forschung gezwungen. Das Humangenomprojekt begann in den 90ern und neue Technologien wurden verfügbar. Wir waren die ersten, die sie erlernten und sie auf unser Patientenmaterial anwandten. Wir gehörten zu den ersten, die das gesamte Genom einer großen Serie von Neuroblastomen sequenzierten und die Primärtumoren mit den Rezidiven verglichen. Jedes Mal brachten wir diese neuen Technologien zu dieser schrecklichen Krankheit. Doch jedes Mal war es sehr enttäuschend, denn wir hatten zwar Milliarden von Daten und fantastische Bioinformatik, doch trotzdem gelang es uns nicht das Neuroblastom zu verstehen.

Wie steht es heute um das Verständnis des Neuroblastoms?

Rogier Versteeg

Förderprogramm

Einstein BIH Visiting Fellows

Förderzeitraum

2020 bis 2023

Vorhaben

Plastizität im Neuroblastom: Prävention letaler Rezidive bei Krebs durch Musteranalyse der Heterogenität von Krebszellen und Anwendung von Kombinationstherapie

Fachgebiet

Hämatologie, Onkologie

Institution

Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2004

Professor für Genetik an der Universität Amsterdam, Niederlande

Seit 2003

Direktor der Klinik für Onkogenomik am Universitätsklinikum der Universität Amsterdam (AMC), Niederlande

2001 bis 2002

Gastwissenschaftler am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik, Berlin, Deutschland

1990 bis 2002

Leiter einer Arbeitsgruppe am Institut für Humangenetik des Universitätsklinikums der Universität Amsterdam (AMC), Niederlande

Eggert: Rogier war der erste auf dem Gebiet der Neuroblastom-Forschung, der die Krebszellenplastizität entdeckte. Mir war klar, dass das ein hochinteressantes Feld ist, das das Potential hat, unser Verständnis des Neuroblastoms entscheidend voranzubringen. In Berlin fehlt diese Expertise bislang sowohl in der Kinder- als auch in der Erwachsenenonkologie. Dadurch, dass Rogier als Einstein BIH Visiting Fellow nach Berlin kommt, können wir von seiner Expertise lernen. Wir können unsere Ideen über das weitere Forschungsvorgehen austauschen und darüber beraten, wie wir unsere Erkenntnisse schnellstmöglich zur klinischen Anwendung bringen. Es ist immer gut, wenn sich Expertisen aus dem experimentellen und aus dem klinischen Bereich zusammentun. Das ist derzeit das interessanteste Feld in der Neuroblastom-Forschung. Wir müssen es gemeinsam angehen.

Versteeg: Vor ungefähr sechs Jahren haben wir entdeckt, dass es in Neuroblastomen zwei verschiedene Zelltypen gibt. Vorher kannten wir nur einen Zelltyp und alle Medikamente wurden nur an diesem einen Zelltyp getestet, und nicht an dem anderen. Dann entdeckten wir, dass beide Tumorzelltypen sich phänotypisch jeweils in den anderen Typ umwandeln können. Wir müssen also Medikamente für diesen anderen Zelltyp finden. In Amsterdam kennen wir uns mit der Grundlagenbiologie dieser Zellen sehr gut aus und wir arbeiten an neuen Medikamenten, die tatsächlich diese anderen Zellen töten. Jetzt müssen wir diese völlig neuen Einsichten und Erkenntnisse – die, die Onkologie gerade umkrempeln, kann man sagen – in die Klinik bringen. Eine neue Behandlung zu entwickeln und sie in die klinische Anwendung zu überführen ist ein kompliziertes Vorhaben.

An genau dieser Stelle berühren Angelika und ich uns wieder. Angelika hat eine großartige Infrastruktur in ihrem Labor. Wir planen derzeit ein komplexes translationales Programm, um diesen neuen Ansatz, der helfen könnte Neuroblastom-Patient/inn/en zu heilen, innerhalb der nächsten vier Jahre zur klinischen Anwendung zu bringen.

Was war Ihr erster Berührungspunkt mit der Krankheit? Warum entschieden Sie sich dazu, sich in Ihrer Forschung gerade auf diese Krankheit zu konzentrieren?

Versteeg: Ich habe als molekularer Grundlagenforscher begonnen. Als junger Wissenschaftler legte ich Zellkulturen von Neuroblastom-Tumorzellen an. Zuerst sieht man darin nur diese hässlichen aggressiven Zellen, die gerade einen Patienten umgebracht haben. Man hasst diese Zellen. Nach ein paar Tagen aber, wenn die Zellen beginnen zu wachsen, geschieht eine Art Metamorphose. Die Zellen sehen unter dem Mikroskop allmählich schön aus. Es ist eine ganz eigene Welt und man beginnt diese Zellen zu mögen. Diese Veränderung dauert ungefähr eine Woche und sie ist typisch für die Arbeit im Labor. All diese DNA- und RNA-Analysen, diese Milliarden von Daten – man spielt Schach gegen einen Gegner, der unsichtbar und schön zugleich ist. Für mich persönlich ist es sehr wichtig regelmäßig in die Klinik zu gehen und die Patientinnen und Patienten zu sehen. Sie inspirieren mich. Gerade komme ich von einem Rundgang durch die Station und es war so gut, die Gesichter der Kinder zu sehen. Dann weiß ich wieder, warum ich dieses Schachspiel schon so lange spiele – 25 Jahre totale Abstraktion. Das hilft mir auf meinem Weg zum „Endspiel“ eines neuen Heilmittels.

Eggert: Die Geschichte, wie ich zum Neuroblastom kam, war ein wenig anders. Ich wollte schon immer Kinderärztin werden. Doch mit meiner Erfahrung durch meine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Molekularbiologie wollte ich sehr gern auch experimentell weiterarbeiten. Mein klinischer Mentor an der Universität Essen bot mir damals an ihn zu einer internationalen Neuroblastom-Konferenz in Heidelberg zu begleiten. Dort hörte ich Rogier zum ersten Mal. Sein Vortrag und die gesamte Konferenz wirkten auf mich sehr inspirierend. Später in der Kaffeepause schlug mein Mentor einem berühmten Neuroblastom-Forscher aus Philadelphia vor, dass ich doch bei ihm in seinem Labor in den USA einen 2-jährigen Postdoc absolvieren könnte. Ich hörte während dieser Kaffeepause davon zum ersten Mal. Wir hatten davor nie darüber geredet. Der Amerikaner, Garett Brodeur[1], erwiderte: „Ja, gerne. Wir haben ein neues Laborgebäude und Platz genug. Wenn Sie ein Stipendium mitbringen, sind Sie bei uns herzlich willkommen und wir finanzieren Ihnen Ihre Projekte.“ Das klang zu einfach um wahr zu sein. Ich bewarb mich also für ein Stipendium bei der Deutschen Krebshilfe und bekam es tatsächlich. Dennoch zögerte ich, weil ich mir unsicher war, ob eine Tätigkeit mit einem sehr hohen Forschungsanteil wirklich der richtige Karriereweg für mich war. Schließlich entschied ich mich für den Postdoc in den USA und habe diesen Schritt nie bereut. Vom ersten Tag an war das Forschungsumfeld in Philadelphia großartig und nach drei Jahren dort, wusste ich nicht, ob ich überhaupt nach Deutschland zurückkehren wollte. Doch wenn ich dortgeblieben wäre, hätte ich die klinische Arbeit aufgeben müssen. Das konnte ich mir nicht vorstellen und ich beschloss nach Deutschland zurückzukehren, um klinische Arbeit und Forschung zu kombinieren.

Prof. Versteeg, Sie werden nun regelmäßig als Einstein BIH Visiting Fellow nach Berlin kommen, um mit Prof. Eggert und ihrem Team zusammenzuarbeiten. Wie gewöhnlich oder ungewöhnlich ist eine solche Kooperation in Ihrem Fach?

Eggert: Eine solch enge bilaterale Kooperation in einzigartig. Aber im Allgemeinen würde ich sagen ist die Community der pädiatrischen Onkologen sehr kooperationsfreudig.

Versteeg: Die Forschung ist inzwischen sehr technologiegetrieben. Wenn man einen einzelnen Tumor studiert, wie wir das mit dem Neuroblastom tun, muss man ihn mit jeder neuen verfügbaren Technologie angehen. Hierfür benötigt man große Kooperationen. All das Wissen und die Technologie aus zwei großen Gruppen zusammenzubringen ist eine große Herausforderung, auch auf sozialer Ebene. Nicht nur der Gruppenleiter kommt nach Berlin. Auch 20 Team-Mitglieder, die in Amsterdam hervorragende Forschungsarbeit leisten, müssen integriert werden. Die Bioinformatik in Amsterdam und in Berlin ist unser integrierender Schirm. Dennoch arbeiten wir, gerade was Daten betrifft, noch nicht voll integriert.

Eggert: Wir planen den Aufbau einer molekularen Datenbank, die nicht nur all die erhobenen Daten aus unserem Konsortium erfasst, sondern auch andere publizierte Daten, um so vergleichende Metaanalysen zu ermöglichen. Rogier’s Gruppe hat eine beeindruckende Datenbank in Amsterdam aufgebaut. Wir werden entweder diese Datenbank nutzen oder sie mit einer neuen verknüpfen, um diese Daten der europäischen Forschungsgemeinschaft als Open Access Tool zur Verfügung zu stellen.

Sie beide arbeiten auf dem sehr fordernden Gebiet der Kinderonkologie. Was ist Ihre tägliche Motivation?

Eggert: Der Ursprung meiner Motivation liegt in der klinischen Arbeit. Ich sehe die Patientinnen und Patienten, die an dieser schweren Krankheit leiden und kann nicht alle von ihnen heilen, nur ungefähr die Hälfte. Das trägt meine Motivation, ins Labor zu gehen und nach neuen Lösungen für das Problem zu suchen. Es gibt mir auch ein gewisses Gleichgewicht. Es gibt manchmal Phasen in der Klinik, in denen nichts zu funktionieren scheint. Patientinnen und Patienten, die man schon lange kennt und mit denen man sich verbunden fühlt, geht es schlechter oder sie sterben sogar. Zeitgleich funktioniert im Labor vielleicht gerade eine Hypothese. So kann ich Frustration auf der klinischen Seite mit Erfolg im Labor ausgleichen und andersherum.

Versteeg: Ich frage mich, ob ich meine kleine geheime Motivation verraten soll. Sie hat mit meinem Interesse an der Beziehung zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlicher Kontrolle zu tun. Krebs geht von einigen wenigen Zellen aus in einem Körper, in dem Milliarden von Zellen exakt kontrolliert werden und genau das tun, was sie tun sollen - bis zu dem Grad, dass sie auf Aufforderung Suizid begehen. Auch in einigen menschlichen Gesellschaften, begehen Personen Selbstmord, wenn es ihnen aufgetragen wird. Ich möchte verstehen, wie es Krebszellen gelingt, der Kontrolle ihres sie umgebenden Körpers zu entgehen. Sie werden gewissermaßen zu Anarchisten. Krebs wird häufig als chaotische Krankheit angesehen, bei der etwas mit der DNA nicht stimmt. Man behandelt einen Tumor mit einem Medikament, z.B. mittels Chemotherapie, doch während der Behandlung mutieren die Tumorzellen weiter und finden die Mutation, die resistent gegen das Medikament ist. Was immer man als Kliniker auch tut, die Tumorzelle ist ständig einen Schritt voraus und am Ende verliert man vielleicht das Rennen. Nun haben wir in Amsterdam herausgefunden, dass es wahrscheinlich doch kein chaotischer Krebs ist, sondern im Gegenteil, ein stark kontrollierter. Die Zelle mutiert nicht unaufhörlich. Es gibt nur diese beiden Tumorzelltypen, die ich vorhin erwähnt habe. Vielleicht gibt es nur einige wenige begrenzte Möglichkeiten von Tumorzelltypen für den Krebs. Das wären großartige Nachrichten, wenn es tatsächlich stimmen sollte. Dann müssten wir nur diese wenigen möglichen Varianten töten und nicht dieses große Potenzial an Chaos, was schon per Definition nicht gelingen kann. Jetzt habe ich wirklich ein bisschen von meiner eigenen Philosophie erzählt. Er lächelt.

Ihnen beiden ist die berufliche Hingabe für die Neuroblastom-Forschung gemein. Was war der beste Karriere-Ratschlag, den Sie rückblickend erhalten haben?

Eggert: Den besten Rat hat mir mein klinischer Mentor gegeben, der mir immer sagte, ich solle mir die Freiheit einer eigenen Meinung nehmen und dazu stehen, egal was die Konsequenzen sein mögen. Manchmal ist das schwierig, aber ich versuche, den Rat zu befolgen.

Versteeg: Ich war schon immer sehr stur. Das brachte mir viele Probleme ein, aber es ermöglichte mir großartige Forschung. Beide lachen.

Welchen Rat würden Sie dem beruflichen Nachwuchs geben?

Versteeg: Folge deiner Leidenschaft und greife nach deinem Traum.

Eggert: Ja, folge deinem Interesse. Und wenn du nicht weiß, wo deine Interessen liegen, dann finde es heraus, indem du dich in verschiedene Forschungsumfelder und interdisziplinäre Umgebungen begibst. Wir verbringen so viel unserer „Freizeit“ mit Beruflichem. Wenn man das nicht mag und wenn man davon nicht begeistert ist…

Versteeg: …dann ist es sinnlos.

Eggert: Wenn man es nur als Aufstiegsgelegenheit oder für das Geld oder aus Pflichtgefühl tut…

Versteeg: …dann ist es langweilig. Die einzige Möglichkeit die Begeisterung zu spüren und bahnbrechende Forschung zu betreiben, ist, es 24 Stunden zu tun. Es ist tödlich, aber…

Beide lachen.

Wir schließen das Interview mit einer letzten Frage.

Wenn Sie eine bis drei Personen (tot oder lebendig) für ein fiktives gemeinsames Abendessen wählen könnten, wer würde das sein?

Eggert:

  • Rudolf Virchow
  • Audrey Evans, die Grande Dame der Neuroblastom-Forschung
  • Leonardo da Vinci, weil er solch ein kreatives Ausnahmegenie war, dass seine Zeit für viele seiner Erfindungen noch nicht bereit war

Versteeg:

  • Rita Levi-Montalcini, Gewinnerin des Nobelpreises und eine der ersten, die wichtige Elemente der neuronalen Entwicklung entdeckte. In ihren Memoiren schildert sie, wie sie durch das Mikroskop schaut und in Embryonen plötzlich tausende Zellen auf abgestimmte Art und Weise sterben sieht.
  • Giacomo Casanova, weil er eine sehr interessante Persönlichkeit war, der mit der dunklen Seite der Gesellschaft bestens vertraut war und gleichzeitig versuchte an den Höfen aufzusteigen. Er reiste während des 18. Jahrhunderts durch Europa und in seinen Memoiren kann man die damalige Kultur Europas aus einer einzigartigen Perspektive kennenlernen.

 

[1] Garrett M. Brodeur, MD, ist Direktor des Programms für Krebs-Prädisposition am Children’s Hospital of Philadelphia (CHOP) und Ko-Direktor des Abramson Cancer Center an der University of Pennsylvania. Er ist international einer der renommiertesten Experten für die Molekularbiologie, Genetik und gezielte Therapie des Neuroblastoms.

November 2019 / Marie Hoffmann