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Weg vom Typodont, hin zum realitätsgetreuen 3D-Modell mit echter Fallgeschichte – ein ambitioniertes Projekt zur Optimierung der Lehre in der Zahnmedizin

Das Studium der Zahnmedizin realitätsnäher gestalten und damit die Lehre verbessern – diesem Ziel haben sich Professor Beuer, Professor Jeremias Hey, PD Dr. Alexey Unkovskiy und PD Dr. Manja von Stein-Lausnitz verschrieben. 2021 gewann das Team dafür den Max Rubner-Preis der Stiftung Charité. Das Preisgeld war die entscheidende Anschubfinanzierung für ihr Vorhaben. Im FACES-Interview hat Florian Beuer uns die Hintergründe erklärt und erzählt, an welchem Punkt der Umsetzung sich das Team mit dem Projekt inzwischen befindet, wie sie es begleitend evaluieren, und was ihm für die Zukunft vorschwebt: Patienten-Klone in ganz Deutschland!

Herr Professor Beuer, Sie und Ihr Team haben vor rund zwei Jahren den Max Rubner-Preis gewonnen. Was hat Sie damals dazu veranlasst, sich auf den Förderpreis zu bewerben?

Wir haben zu der Zeit eine neue Approbationsordnung bekommen, die das Studium der Zahnmedizin kliniknäher und problemorientierter machen sollte. Es kam zu einer Verdichtung der Inhalte und auch einer Reduktion der praktischen Stunden, die das Studium beinhaltete. Früher wurde in diesen Stunden viel Zahntechnisches eingeübt, heute ist das Spektrum breiter und umfasst auch die Zahnerhaltung, Chirurgie und Kieferorthopädie. In den sogenannten Phantomkursen geübt und gefestigt wird das erlernte Wissen aber weiterhin an einem stark abstrahierten Gebissmodell, dem Typodont. Es ist mehr oder minder weltweit im Einsatz und weist zwar eine Ähnlichkeit zu echten Zähnen auf, viel mehr aber auch nicht. Haptik und Größe bzw. die Relationen zwischen Zähnen, Zahnfleisch und Knochen stimmen im Typodont beispielsweise überhaupt nicht. Ich denke, dass die Modelle, mit denen wir arbeiten, wenn wir die Studierenden ‚trockenschwimmen‘ lassen, eigentlich schon keinen großen Unterschied mehr zum Gebiss im Mund einer echten Patientin oder eines Patienten aufweisen sollten. Der fortgeführte Einsatz der althergebrachten Modelle läuft dem Ziel einer kliniknäheren Ausbildung also zuwider. Daher haben wir uns im Team vorgenommen, realitätsgetreuere Modelle zu entwickeln, die obendrein reale Fälle abbilden. Das bedeutet, dass wir die CT-Daten von echten Menschen nutzen, um die neuen Modelle zu bauen und mit einer Geschichte zu hinterlegen. Die Krankenakten dieser Personen, die uns ihre Daten gespendet haben, liefern den Stoff für den Chatbot, den Studierende ähnlich einem tatsächlichen Gegenüber befragen müssen, um sich für eine Behandlungsmethode zu entscheiden. Die Real-Geometrie ist also das eine, jedes Modell ist aber erst mit dem passenden digitalisierten Fall vollständig.

Durch das Üben an unseren Modellen können die Studierenden in Zukunft die reduzierte Praxiszeit effizienter nutzen. In der Interaktion mit der Software wird die Diagnose- und Entscheidungsfindung geübt; beides ganz klar ärztliche Kompetenzen. Die Bewerbung auf den Max Rubner-Preis erschien uns deshalb passend, weil eine solche Umstellung auf realitätsnähere Bedingungen eine starke Verbesserung in der Lehre darstellt. Das Preisgeld hat uns seitdem als Anschubfinanzierung gedient – damit konnten wir die Sache angehen!

Was bringen die realitätsnäheren Modelle aus dem 3D-Drucker mit, das dem Typodont fehlt?

Die Anatomie ist naturgetreuer nachgebildet. Die Dimensionen von Zahnfleischimitation und ‚Knochen‘ stimmen. Alles fühlt sich realistischer an. Denn die ‚Zähne‘ sind hier nicht nur aus einer Kunststoffmasse zusammengesetzt, wie es beim Typodont der Fall ist. Sie bestehen aus Materialschichten, die den echten Zahnbestandteilen Nerv, Zahnbein und Zahnschmelz nachempfunden sind.

Florian Beuer

Förderprogramm
Max Rubner-Preis

Jahr der Auszeichnung
2021

Fachgebiet
Zahnmedizin

Vorhaben
Entwicklung interaktiver Patientenfälle für das Studium der Zahnmedizin basierend auf 3D Modellen und Chatbots

Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2021
Präsident der Deutschen Gesellschaft für Implantologie

Seit 2018
Leiter des Studiengangs Zahnmedizin an der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Seit 2015
W3-Professur Zahnärztliche Prothetik an der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Theoretisch könnte man hier sogar kleine Operationen durchführen und das Gewebe anschließend nähen! An unseren Modellen können wir simulieren, was passiert, wenn ich zu viel von dem Zahn wegbohre oder -schleife und den Nerv eröffne. Ich habe hier ein sehr, sehr reales Gefühl und sehe dann auch, wenn ich nah an den Nerv komme – ich sehe ihn durchschimmern wie in echt. Einerseits sollen die Studierenden so an reale Bedingungen herangeführt werden, andererseits soll es ihnen auch mehr Spaß bereiten, mit diesen wirklichkeitsnahen Modellen zu arbeiten. Sie erkennen: Okay, das ist jetzt keine Puppe, sondern das ist eigentlich wirklich schon eine Patientin bzw. ein Patient, die oder der dahintersteht, ein Mensch mit einer Geschichte, mit seinem dreidimensionalen Bild.

Werden die Studierenden so auch besser auf die Behandlung von echten Patientinnen und Patienten vorbereitet?

Absolut. Wenn ich das erste Mal eine Patientin bzw. einen Patienten vor mir sitzen habe, sind all die Ängste, die sie bzw. er mitbringt, das, was mich in jedem Fall unter Stress setzt. Daher sollten die Schritte, die in einer solchen Situation zahnmedizinisch durchgeführt werden müssen, möglichst wenig Stress auslösen. Dabei steht viel auf dem Spiel: Jeder Kubikmillimeter Zahnhartsubstanz, den ich abgeschliffen habe, kommt nie mehr wieder. Das heißt, das ist wirklich etwas, das kann ich nur einmal machen. Ich muss die Zahnhartsubstanz wertschätzen und gut vorbereitet sein, damit ich ja nicht zu viel wegnehme. Wenn ich zuvor schon an authentischen Modellen üben konnte, ist der Übergang zur echten Patientin bzw. zum echten Patienten fließender und weniger unbehaglich. Passend dazu ein persönliches Beispiel aus meinem Leben: als ich das erste Mal eine Wurzelspitzenresektion durchführen musste, tat ich dies direkt an einem Menschen. Dabei wird der Zahn von außen aufgeklappt, die Wurzel angebohrt und anschließend ein Teil der Wurzel abgesägt. Vielleicht hätte ich mich wohler gefühlt, wenn ich dieses Vorgehen erst an einem realistischen Modell hätte üben können! Sie müssen bedenken: Im Unterschied zum Studium der Humanmedizin ist bei uns die berufsfertige Zahnärztin bzw. der berufsfertige Zahnarzt das Studienziel. Wenn Sie Examen machen, können Sie sich am nächsten Tag niederlassen, theoretisch.

Ohne die Fortschritte im 3D-Druck, die in den letzten Jahren gemacht wurden, könnten Sie Ihre Modelle gar nicht herstellen, richtig?

Korrekt. Solche Geometrien lassen sich tatsächlich nur auf diese Weise herstellen; mit subtraktiven Techniken, Fräs- oder Schleiftechniken hat man da kaum eine Chance. Das Tolle am 3D-Druck ist auch, dass man eben verschiedene Materialien drucken kann. Dass wir die Modelle überhaupt auf diese Weise produzieren können, ist Alexey Unkovskiy aus unserem Team zu verdanken. Er ist gewissermaßen der Spezialist für 3D-Drucke und besitzt das nötige Know-How. Er hat sich inzwischen auch habilitiert über Epithesen, also quasi ästhetische Prothesen zur Gesichtsrekonstruktion, die individuell im 3D-Druck hergestellt werden. Das ist ein superinteressantes Thema, das nur wenige in der Wissenschaft bearbeiten.

Wer ist neben Herrn Unkovskiy noch Teil des Teams?

Da ist zum einen Jeremias Hey, der gemeinsam mit mir viel Lehr-Expertise in das Projekt gebracht hat. Er hat außerdem in der Vergangenheit bereits an einem Chatbot-Projekt gearbeitet, wovon wir natürlich profitiert haben. Kennengelernt haben wir uns vor 14 Jahren, als wir gemeinsam den Master of Medical Education absolvierten. Leider kann er nicht beim Fototermin dabei sein, da er mittlerweile als Professor für Zahnärztliche Prothetik in die Universitätsmedizin Halle gewechselt ist. Zum anderen ist Manja von Stein-Lausnitz dabei, unsere Studiengangskoordinatorin. Sie hat die gesamte Koordination des Projekts übernommen und ebenfalls ihre Erfahrungen aus der Lehre einfließen lassen.

Wie ist der aktuelle Stand des Projekts, in welcher Phase befinden Sie sich damit? Können Sie schon erste Modelle in der Lehre einsetzen?

Einen Patientenfall haben wir jetzt einmal komplett aufbereiten können. Das Modell, das diesen Fall abbildet, wird nun von einer kleinen Kohorte aus sieben Studierenden getestet, die sich im fünften Semester befinden. Es sind also allesamt Personen, die noch nach der alten Approbationsordnung studieren. Sie sind tatsächlich die Ersten, die jemals eines der neuen Modelle ausprobieren. In einem nächsten Schritt lassen wir noch eine Kohorte aus zwanzig Studierenden des siebten Semesters mit dem Modell arbeiten. Anders als bei der ersten, kleineren Kohorte hat die zweite Kohorte bereits Erfahrungen mit echten Patientinnen und Patienten gesammelt. Wir sind also mittendrin in der Testphase! Gedacht ist, das Ganze in einer Art Crossover-Design zu evaluieren: Die Studierenden erhalten zunächst das neue Modell zum Üben, danach wird der Hälfte der jeweiligen Kohorte noch einmal der klassische Typodont zur Verfügung gestellt. Anschließend überprüfen wir, ob ein messbarer Effekt erkennbar ist, wenn die Studierenden vom neuen Modell zurück zum alten wechseln – also ob die Unterschiede zwischen den Modellen als signifikant für den Lernerfolg und damit die Qualität der Ausbildung der angehenden Zahnärztinnen und Zahnärzte gelten können.

Vorausgeblickt: Was sind Ihre Ziele für die Zukunft?

Wir wollen ganz viele Patienten-Klone in die Welt bringen, weg vom Standardmodell! Die von uns entwickelten Modelle sollen nach Möglichkeit einmal Prüfungsmodelle für die praktischen Prüfungen in der Zahnmedizin werden. Vielleicht könnten wir sie sogar als neuen Standard in ganz Deutschland etablieren. Außerdem haben wir die Vision, open access eine digitale Bibliothek voller Patientenfälle zur Verfügung zu stellen, die für unsere Modelle aufbereitet sind. Damit soll dann idealerweise jede Universität arbeiten können, jedoch unter der Bedingung, selbst auch mindestens einen Fall bzw. die Rohdaten für einen Fall – d. h. die Krankengeschichte einer Person und ihre CT-Bilder – beizusteuern. Das wäre die nächste Ausbaustufe des Projekts, bei der wir uns noch auf ein Finanzierungsmodell einigen müssen. Vorher wollen wir die Evaluationsphasen mit den beiden Kohorten durchführen, um mit den daraus gewonnenen Ergebnissen weiterarbeiten zu können. Wir haben dieses Jahr auch schon ein Paper im European Journal of Dental Education eingereicht. Noch ist es under review, aber wenn es dann erschienen ist, hätten wir Vorarbeiten vorzuweisen, die uns bei der Einwerbung neuer Förderung nützlich sein werden. Eine solche benötigen wir, um das Projekt zu skalieren. Denn es fehlt uns nicht an Fällen, sondern an Ressourcen für die Aufbereitung dieser Fälle. Diese Aufbereitung – einen dreidimensionalen Datensatz zu segmentieren – ist das eigentlich Aufwendige! Der Max Rubner-Preis hat uns dankbarerweise in eine Situation gebracht, in der wir mittels viel learning by doing unsere Expertise ausbauen und uns dafür qualifizieren konnten, ein vertrauensvoller Partner für Folgeförderung zu werden. Personell sieht es vielversprechend aus: Eine ehemalige studentische Hilfskraft aus dem Projekt fängt nach dem Examen als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei uns an, wird also weiter am Thema dranbleiben. Ein paar Dissertationen haben wir im Rahmen des Projekts ebenfalls laufen.

Und was ich mir für die Zukunft noch vorstelle: dass wir die Bildgebung an dem Modell genauso machen können wie an der realen Patientin bzw. dem realen Patienten, also die Röntgenopazität des Knochens und der dentalen Hartgewebe schaffen nachzubilden. Das wäre ein weiterer, echter Sprung nach vorne. Ein weiterer Punkt, der uns im Team aktuell beschäftigt, ist das Thema Nachhaltigkeit. Das ist definitiv ein Zukunftsthema für die Zahnmedizin insgesamt, wird aber erst seit ein, zwei Jahren breiter diskutiert.

Wollen Sie das noch weiter ausführen?

Gerne. Die Materialien, die heute für derartige 3D-Drucke, wie wir sie machen, verwendet werden, bestehen leider überwiegend aus Plastik. Wir versuchen Alternativen zu finden, die nachhaltiger sind. Beispielsweise haben wir für unsere Implantat-Bohrschablonen bereits Polylactid verwendet – ein Milchsäure-Derivat, das biologisch abbaubar ist. Insgesamt ist die Industrie aber noch nicht so weit. Noch ist man froh, wenn man präzise drucken kann. Die Nachhaltigkeitsfrage ist im Moment noch eher sekundär.

Was wir bei uns in der Zahnmedizin außerdem unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit einordnen, ist, die Präsenztermine der Patientinnen und Patienten auf ein Minimum zu beschränken. Mit der Ressource Zeit sollte bedacht umgegangen werden. Wir dürfen es nicht als selbstverständlich ansehen, dass die Patientin oder der Patient einfach alle Nase lang kommt. Unser Chatbot bereitet die Studierenden so gesehen auch auf eine zukünftig breitere Anwendung der Telemedizin vor: Welche Dinge kann die behandelnde Person schon vorher abklären, wofür müssen die Patientinnen und Patienten nicht im Stuhl sitzen? Das sollten wir uns immer fragen.

Wenn Sie sich zurückerinnern: Was hat Sie selbst einmal daran gereizt, Zahnmedizin zu studieren?

Das ist eine sehr gute Frage. Tatsächlich war mein Vater ebenfalls Zahnarzt. Ich habe sogar die ersten beiden Jahre meiner zahnärztlichen Tätigkeit bei ihm in der Praxis im Oberbayrischen gearbeitet. Aber das war noch nicht ganz das Richtige für mich. Meinen Bruder hat es auch in die Zahnmedizin verschlagen, er ist heute niedergelassener Oralchirurg. Ich glaube, es gibt tatsächlich nur zwei Motivationen, den Beruf anzustreben: entweder ist jemand in der eigenen Familie bereits in der Zahnmedizin tätig oder man hatte in der Vergangenheit selbst viele Probleme mit den Zähnen und möchte nun anderen Betroffenen helfen, denen es ähnlich geht. Kein Kindergartenkind antwortet bei der Frage nach seinem Berufswunsch mit Zahnarzt!

Gibt es einen Grund, warum Sie sich, anders als zum Beispiel Ihr Bruder, nicht niedergelassen haben? Was hat Sie an die Universität zurückkehren lassen?

An der Uni schätze ich einfach sehr, dass es hier diese Kombination aus Lehre, Forschung und Krankenversorgung gibt. Ich behandle wahnsinnig gerne Patientinnen und Patienten und mag Menschen sehr. Das ist die Grundlage für den Beruf, in meinen Augen. Gleichzeitig gebe ich das Wissen, das ich im klinischen Kontext ansammeln kann, unheimlich gerne an die Studierenden und meine wissenschaftlich Mitarbeitenden weiter.

Was schätzen Sie noch an Ihrem Beruf?

Das Feedback, insbesondere die Dankbarkeit, die man in den meisten Fällen unmittelbar nach einer Behandlung von den Patientinnen und Patienten erfährt, ist großartig – zum Beispiel, wenn man die Person auf dem Stuhl von ihren Schmerzen befreien oder ihr neue Zähne geben konnte. Das passiert in den meisten anderen medizinischen Bereichen ja nicht so unmittelbar. Daneben empfinde ich es als sehr angenehm, dass es in meinem Arbeitsalltag im Gegensatz zu anderen Bereichen der Medizin in den seltensten Fällen um Leben und Tod geht. Insgesamt kann ich sagen, dass ich jetzt seit über zwanzig Jahren in diesem Beruf arbeite und mich immer noch wie ein kleines Kind über Dinge freuen kann, die gut geworden sind, und damit meine ich auch ästhetisch. Zahnmedizin vereint nahezu perfekt die manuellen Tätigkeiten und die Medizin.

Zu guter Letzt: Warum sollten sich junge Menschen, die ein Zahnmedizinstudium ins Auge fassen, an der Charité um einen Platz bewerben?

Zuallererst natürlich, um mit und an den Modellen, die wir hier gerade entwickeln, zu lernen! Darüber hinaus: Sie wären an der Charité wirklich sehr gut aufgehoben. Wir haben hier eine außergewöhnliche Gruppe an Lehrenden mit vielen verschiedenen Ideen. Das Studium hier ist attraktiv. Jede Kompetenz, die es in der Zahnmedizin gibt, ist innerhalb der Charité abgebildet – Ihnen steht jede Spezialisierung offen.

Marike de Vries & Dr. Nina Schmidt
Juni/ Juli 2023