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Über tierische Lebenskünstler und die Kunst der Wissenschaftskommunikation

Seit 2023 fördert die Stiftung Charité im Rahmen ihres Schwerpunkts Open Life Science jedes Jahr neue „science x media Tandems“: Damit unterstützt sie die Zusammenarbeit von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Medienschaffenden an innovativen Projekten zur Verbesserung der Wissenschaftskommunikation. Professor Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC), Wissenschaftskommunikator Russ Hodge (ebenfalls MDC) und die Berliner Künstlerin Kat Menschik gehören zu den geförderten Teams der ersten Kohorte. Gemeinsam haben die drei in einem science x media Tandem an einem anspruchsvollen Projekt gearbeitet, das in der populärwissenschaftlichen Buchpublikation „Lebenskünstler: Von frostfesten Fischen, radioaktivitätsresistenten Bärtierchen und selbstheilenden Amphibien“ (2024) im Galiani Verlag mündete. Das Werk vermittelt, was außergewöhnliche Tiere uns über das Menschsein lehren können und was Klimawandel und Biodiversitätsverluste mit Mensch, Tier und Umwelt machen. Wir trafen das Team zum Gespräch auf dem Campus des Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch:

Wie haben Sie drei – ein Grundlagenforscher, eine preisgekrönte Illustratorin und ein Wissenschaftskommunikator – zueinander gefunden? Wer hatte die Idee zum Projekt und was war Ihre Motivation für diese doch eher ungewöhnliche Zusammenarbeit?

Menschik: Der erste Kontakt kam über einen gemeinsamen Freund. Salim Seyfried, Professor für Zoophysiologie an der Uni Potsdam, sprach mich an und erzählte, dass Kollegen von ihm einen Künstler oder eine Künstlerin für ein wissenschaftskommunikatives Projekt suchten. Zunächst habe ich dankend abgelehnt – ich hatte bereits so viele Verpflichtungen für das Kalenderjahr. Dann traf ich mich mit Salim zum Essen und er erwähnte nebenbei, dass es in dem Projekt um Tiere gehen solle – ganz besondere Tiere. Da wurde ich hellhörig und habe auch etwas mit ihm geschimpft: Warum er mir das nicht gleich gesagt habe?! Tiere zu zeichnen ist eine meiner größten Leidenschaften. Nach einem Telefonat mit Russ war ich dann vollends begeistert – das war allerdings eine Woche vor Bewerbungsschluss! (lacht)

Hodge: Die eigentlichen inhaltlichen Grundlagen für unser Vorhaben hatte Gary 2019 mit einer wissenschaftlichen Konferenz geschaffen, aufbauend auf seiner Forschung am Nacktmull als Modellorganismus für extreme Physiologie und seinen Arbeiten zu anderen außergewöhnlichen Tieren.

Lewin: Die Konferenz, auf die du anspielst, war überschrieben mit dem Titel ‚Beyond the Standard: Non-model Vertebrates in Biomedicine.‘ Die ursprüngliche Idee dafür stammte von meinen damaligen Postdoktorandinnen Alison Barker und Jane Reznick, die heute beide ihre eigenen Forschungsgruppen in Frankfurt und Köln leiten. Jane, Alison und ich begeistern uns alle drei für sogenannte Nicht-Modell-Organismen – Lebewesen, die man normalerweise nicht als biomedizinisch relevant betrachtet. Wir fanden: Der Fokus der Forschung auf einige wenige Standardmodelle lässt einen großen Teil der unglaublichen biologischen Vielfalt dieses Planeten außer Acht; Tiere, die sich auf raffinierte und oft auch kuriose Weise an ihre Umwelt angepasst haben. Auf sie wollten wir den Blick richten und fragten im Call for Papers sinngemäß: Was können wir von außergewöhnlichen Tieren für die Biomedizin lernen? Die Konferenz selbst war eine der besten, die ich je erleben durfte. Sie war getragen von einer großen Begeisterung über die Begegnung und den Austausch, weil solche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich sonst nicht unbedingt treffen: Leute, die mit Python-Schlangen arbeiten, Fische, Wale oder Delfine erforschen – sie alle kamen für zwei, drei Tage in einem Raum zusammen.

Gary Lewin

Förderprogramm
science x media Tandems

Tandempartnerin
Kat Menschik

Förderzeitraum
2023 bis 2024

Fachgebiet
Neurowissenschaften, Somatosensorik

Vorhaben
What remarkable animals can teach us about being human

Institution
Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

 

2021 – 2025
Co-Sprecher des Themenbereichs Molekulare Prozesse und Therapien am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Seit 2003
AG-Leiter, Abteilung Neurobiologie, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC)

Seit 2003
Professur für Medizinische Genomforschung am Fachbereich Humanmedizin der Freien Universität Berlin (heute: an der Charité – Universitätsmedizin Berlin)

Hodge: Gary hatte mich damals gefragt, ob ich die Tiere aus den einzelnen Vorträgen malen könnte – ich mache nebenbei etwas Kunst. Klar, sagte ich, und habe dadurch viele der Vorträge hören können. Ich fand sie alle total spannend. Jahrelang dachte ich: Irgendwann müssen wir etwas Größeres daraus machen. Als dann die Stiftung Charité ihr science x media-Förderprogramm ankündigte, war das die Gelegenheit! Für das MDC alleine wäre das ein sehr ungewöhnliches Projekt gewesen – wir machen hier im Alltag eher klassische Kommunikationsarbeit. Aber mit Förderung schien es plötzlich möglich, auch mal ein bisschen was zu wagen. Und wir hatten durch das Tandem die nötigen Ressourcen dazu! Mit dem Galiani Verlag haben wir dann erfreulicherweise einen renommierten Verlag gefunden, der den Weg mit uns zusammen gegangen ist. Herausgekommen ist ein wirklich prachtvolles, schön gestaltetes Buch, das sowohl der Kunst als auch der Wissenschaft gerecht wird.

Sie sprachen von Standard-Modellorganismen – können Sie das für Laien kurz erklären?

Lewin: Die gängigsten biomedizinischen Versuchstiere heutzutage sind die Drosophila oder Fruchtfliege, Wurm, Zebrafisch und Maus. 99 Prozent der biomedizinischen Forschung wird mit diesen vier Modellorganismen gemacht – und praktisch alle Nobelpreisträgerinnen und -preisträger der letzten zwanzig, dreißig Jahre haben mit ihnen gearbeitet. Das hat gute Gründe: Sie eignen sich hervorragend für die genetische Manipulation, man kann fast alle Gene ausschalten oder verändern, ihre Entwicklung ist gut verstanden und sie sind kostengünstig zu halten. Aber eben: Dadurch bleibt ein Großteil der faszinierenden biologischen Vielfalt da draußen unbeachtet.

Was war der grundlegende Kommunikationsbedarf, den Sie unbedingt angehen wollten? Warum war es Ihnen wichtig, gerade diese Art der Forschung an bzw. mit Tieren einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln?

Hodge: Schon bei besagter Konferenz fiel mir auf, was für einen offenen Blick auf die Tiere die teilnehmenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hatten. Wie sehr ihnen die Tiere, die sie erforschen, am Herzen liegen. Und das Tierwohl ist ja ein wichtiges gesellschaftliches Thema. Je besser die Forschung wird, je mehr Technologien wir entwickeln, desto häufiger stellt sich die Frage: Ist es überhaupt noch notwendig, Tiere in der Forschung zu verwenden? Wir haben ja teilweise künstliche Systeme als Alternative. Aber die Forschenden, die mit diesen besonderen Tieren arbeiten, stellen ganz andere Fragen als in der klassischen biomedizinischen Forschung und als die Bürgerinnen und Bürger vielleicht denken. Ein Beispiel: Viele Krankheiten, die den Menschen plagen, gibt es auch bei Tieren, Herz-Kreislauf-Erkrankungen etwa. Und manche Arten haben genau diese Probleme evolutionär bereits gelöst. Eine Giraffe hat zum Beispiel keinen Bluthochdruck, obwohl sie das Blut meterhoch ins Gehirn pumpen muss. Wie kann das sein? Und was können wir daraus lernen?

Lewin: Diese Forschenden – also: wir – haben ein grundsätzliches Interesse an der Vielfalt des Lebens. Wir schauen das gesamte Tier an, nicht nur einzelne Komponenten. Wir wollen wissen, wie alles zusammenhängt. Wenn man unterirdisch lebt wie beispielsweise meine Nacktmulle, hat man völlig andere metabolische Bedürfnisse, ein anderes sensorisches Empfinden. Man braucht keine Augen, erkundet stattdessen die Welt mittels Tast- oder Geruchssinn. Das ist in der Erforschung der (Nicht-)Entstehung von Schmerz äußerst relevant. Außerdem können Nacktmulle bei praktisch null Sauerstoff überleben, während wir Menschen ohne Sauerstoff sofort in Bedrängnis kommen. Aber unterirdisch ist das natürlich fantastisch, dass der Metabolismus auch in so einem Minimalmodus funktioniert. Der Gedanke an die Artenvielfalt auf der Erde motiviert mich, denn ich glaube, dass wir von Tieren – und speziell anderen Säugetieren wie den Nacktmullen – lernen können. Diese holistische Sicht auf außergewöhnliche Anpassungen und unser wissenschaftliches Erkenntnisinteresse dahinter wollten wir der Öffentlichkeit im Tandem vermitteln.

In „Lebenskünstler“ erzählen Sie nicht nur die Geschichten außergewöhnlicher Tiere, sondern auch die der Menschen, die diese erforschen – mit ihren oft prekären Karrierewegen, den professionellen Netzwerken, die sie sich aufbauen, und dem Quäntchen Zufall, das Forschung manchmal braucht. Was war Ihr Ansatz beim Schreiben, Russ Hodge, um die naturwissenschaftlichen Inhalte des Buches einer breiten Leserschaft zugänglich zu machen?

Hodge: In der klassischen Wissenschaftskommunikation, wie wir sie am MDC betreiben, geht es meist darum, zeitnah zu einer Entdeckung konkrete Ergebnisse zu veröffentlichen – etwa in Pressemitteilungen. Das Buch-Format hingegen gab sowohl mir als auch den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die ich im Zuge meiner Recherchen sprach, die Möglichkeit zu reflektieren. Die meiste Kommunikation, die Forschende betreiben, ist sehr gezielt; sie ist außerdem primär an die eigene Fachcommunity gerichtet. Es gibt wenig Formate, in denen sie von sich erzählen können – und beispielsweise davon, wie sehr ihr Lebensweg mit der Geschichte eines Tieres verwoben ist. Ich habe deshalb versucht, sie zu Worte kommen zu lassen und sie als Persönlichkeiten zu schildern. Die meisten Menschen außerhalb der Wissenschaft haben wenig Kontakt zu dieser Welt. Bevor ich begann in der Wissenschaftskommunikation zu arbeiten, kannte ich selbst auch keine Forschenden. Man hat als Außenstehender schnell den Eindruck: Die Wissenschaft, das ist eine geschlossene Gesellschaft. Ich nahm mir also vor, die Forschenden nahbar werden zu lassen, sie als die Menschen zu zeigen, die sie sind, und zu versuchen ihre Art zu Denken zu vermitteln.

Menschik: Das kann man gar nicht genug hervorheben, wie speziell diese Grundidee von Russ‘ Texten ist. Ich habe das noch nie in dieser Art irgendwo gesehen bzw. gelesen. Dieses Verweben der Geschichten von Menschen, Tieren und ihren Kontexten ist es, was dieses Buch so sinnlich macht.

Hodge: Das Schreiben selbst war anspruchsvoll, weil ich eine wirklich breite Leserschaft erreichen wollte und nicht davon ausgehen konnte, dass sie biologische Vorkenntnisse mitbringt. Das bedeutet, ich musste wirklich jedes Konzept einführen – ohne mich in den einzelnen Kapiteln zu sehr zu wiederholen. Geholfen haben mir dabei Analogien und Bilder aus dem Alltag, mit denen ich den Leserinnen und Lesern bestimmte wissenschaftliche Muster näherbringen konnte. Sie sind Teil der Werkzeugkiste der externen Wissenschaftskommunikation.

 

Die Illustrationen in „Lebenskünstler“ zeigen die Tiere nicht isoliert vor weißem Hintergrund, sondern eingebettet in ihre Umwelt. Wie sind Sie, Kat Menschik, an die Illustrationen herangegangen? 

Menschik: Ich wollte mit diesen großen Bildtafeln eine ähnlich erzählerische, sinnliche Situation kreieren, wie Russ sie textlich erzeugt. Bei den Nacktmullen zum Beispiel hat Gary beschrieben, wie Afrika über der Erde aussieht, dort wo die Nacktmulle unter der Erde leben. Das fand ich total interessant und auch eine Herausforderung für mich – die gesamte Umwelt jeweils in ein Bild zu bekommen, manchmal von der Luft bis unter die Erde zu gehen. Gedanklich Pate standen mir dabei alte Schullehrtafeln, außerdem die Dioramen – Schaukästen – im Naturkundemuseum. Wir wollten mit ‚Lebenskünstler‘ einen Folianten machen, eine Reminiszenz an alte Lexika mit ihren Bildtafeln schaffen. Schon als Kind habe ich mir in alten Brockhaus-Bänden am liebsten die Bildtafeln angeschaut. Diese großen durchgezeichneten Bilder machen viel Mühe, aber es hat mich wirklich gefreut, dass das funktioniert hat. Als Künstlerin habe ich auch schon Phasen durchgemacht, in denen ich Sorge hatte, dass mir die Ideen ausgehen und die Zeitungen irgendwann schreiben, die Menschik wiederholt sich jetzt aber! Bei Musikerinnen und Musikern nennt man das die Angst vor dem zweiten Album. Zum Glück bin ich darüber hinweg!

Lewin: Wissenschaft und Kunst ähneln sich ja mehr, als viele denken. Man hat als Wissenschaftler eigentlich dieselbe Angst. Es ist wichtig, dass man sich nicht wiederholt und dass man originell bleibt.

Themenwechsel: Die Wissenschaftsfreiheit wird weltweit angegriffen, die Finanzierung von Forschung zu sichern wird in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ebenfalls schwieriger. Braucht Wissenschaft heute mehr gute Wissenschaftskommunikation und Fürsprache denn je?

Lewin: Die braucht die Forschung unbedingt, aber die Art und Weise, wie diese Fürsprache derzeit betrieben wird, funktioniert nicht – zumindest nicht gegenüber der Politik. Dabei gibt es durchaus ein Publikum, das sich begeistern lässt für Forschung: Ich würde sogar sagen, das ist gesellschaftlich die schweigende Mehrheit. Die lauten Stimmen, die gegen uns agitieren, kommen oft aus sehr kleinen, primär im Internet aktiven Gruppierungen, die enormen Druck auf die Politik ausüben. Im Vergleich dazu finde ich, dass die Selbstvertretungsorganisationen von Patientinnen und Patienten im Bundestag nicht genug wahrgenommen werden. Solche Organisationen würden aber die essentielle Rolle der Lebenswissenschaften betonen, denn ohne sie keine Medikamente, die Leiden lindern oder heilen. Auch wenn der Weg der Forschung bis zum Medikament oft zwanzig oder dreißig Jahre vorher beginnt, um schließlich einen wichtigen Mechanismus zu entschlüsseln, der die Translation der Grundlagenforschung erst möglich macht.

Hodge: Und deshalb sind solche Geschichten, wie wir sie in „Lebenskünstler“ erzählen, so wichtig. Die meisten Entwicklungen in der Forschung brauchen sehr lange, um zu reifen. Das Medium Buch bzw. das populärwissenschaftliche Sachbuch ist ein Weg, den wir gefunden haben, um den Menschen ausgewählte größere Entwicklungen der Forschungsgeschichte näher zu bringen. Es gibt sehr wenige mediale Formate, in denen man sonst so komplexe Geschichten erzählen kann. In einem New York Times-Artikel oder Washington Post-Artikel vielleicht, im Scientific American oder eben in einem Buchkapitel kann man das. Es ist aber unglaublich wichtig, wie das Ganze gestaltet ist. Die wenigsten Menschen haben die Ausdauer für lange, trockene Texte. Wir versuchen deshalb unsere Leserschaft mit Bild und Text zu verführen, zu fesseln, damit sie bei der Stange bleiben. Das ist der Hintergrund unserer gemeinsamen Bemühungen im Tandem-Projekt.

Meine Frage zum Schluss, mit der Bitte um Ein-Wort-Antworten reihum. Was ist Ihr Lieblingstier? Ich vermute, die Gary Lewins Antwort kennen wir …

Lewin: Nein! (schmunzelt) Das Erdferkel ist mein Lieblingstier!

Menschik: Ich sage Pangolin!

Lewin: Oh ja, die sind auch schön.

Hodge (nach längerer Bedenkzeit): Die Giraffe! Aber als Autor entwickelt man eine enge Beziehung zu all seinen ‚Charakteren‘ – in diesem Fall zu all den Tieren und den Menschen, die sie erforschen.

Dr. Nina Schmidt
 Mai/Juni 2025