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Zum Wohle der Patientinnen und Patienten in der Radiologie – ein Ausgründungsprojekt und seine Geschichte

Privatdozentin Katharina Erb-Eigner gehört zu dem ausgewählten Personenkreis, der von der Stiftung Charité im Rahmen des Schwerpunkts Innovation im Pilotprogramm Inventors for Health (I4H) gefördert wurde. Seit Beginn ihrer Förderung durch die Stiftung Charité konnte die gebürtige Österreicherin ihr unternehmerisches Vorhaben weit voranbringen. In 2022 wurde es in das Digital Health Accelerator-Programm des Berlin Institute of Health aufgenommen. Wir haben Frau Erb-Eigner an ihrem Arbeitsplatz auf dem Campus Virchow-Klinikum getroffen und unter anderem erfahren, wie es ihr und ihrem Projekt seit 2020 ergangen ist, welche Hürden es während der letzten Jahre mit RadioEye zu nehmen galt und warum die Nutzung technischer Tools auch in Zukunft nie ganz ohne menschliche Expertise denkbar sein wird.

Frau PD Dr. Dr. Erb-Eigner, wie geht es Ihnen und vor allem: wie geht es Ihrem Projekt?

Gut, sogar sehr gut, würde ich sagen. Nachdem unser Projekt initial im Rahmen von Inventors for Health gefördert wurde, haben wir eine Folgefinanzierung über das Berlin Institute of Health erhalten. Da stecken wir gerade mittendrin: wir wurden schon einmal evaluiert und nehmen nun an der sogenannten Stage Two teil. Ich denke aber auch gerne an die I4H-Förderung zurück und bin wirklich dankbar für die Zeit.

Woran denken Sie, wenn Sie auf die I4H-Förderung zurückblicken?

Ich erinnere mich besonders gerne an das Bootcamp, das wir anfänglich durchlaufen haben. Das war für mich persönlich das Beste an der ganzen Erfahrung. Ich bin sehr dankbar für den Input von außen, den wir dadurch bekamen. Anfangs waren meine Programmierer*in und ich ja nur zu zweit. Wir haben dann beispielsweise intensiv mit der Kreuzberger Design-Agentur Fuenfwerken zusammengearbeitet, die uns durch die Unterstützung ihrer Expertinnen und Experten viel neues Wissen mit auf den Weg gegeben hat. Ich hatte zuvor noch nie etwas von Design Thinking gehört, das bei der Entwicklung und Verwirklichung neuer Ideen jedoch sehr wichtig ist. Dieses Bootcamp war sozusagen die Geburt unseres Translationsprojekts. Und inzwischen ist mein Team fast zehn Personen groß. Dazu kommen diverse service provider, die ihre Energie in RadioEye stecken, wenn und wo nötig. Und mit Ferdinand Wagner von Fuenfwerken habe ich bis heute Kontakt, er interessiert sich bis heute dafür, wie es dem Projekt geht.

Können Sie uns die Grundidee hinter RadioEye noch einmal skizzieren, worum ging bzw. geht es Ihnen damit?

Die Idee dahinter ist, seltene Befunde in der Radiologie nicht nur zu beschreiben und bestenfalls einzugrenzen, wie man es als behandelnder Arzt oder Ärztin häufig tut, weil man als Allgemeinradiologe oder -radiologin unmöglich in jeder Organregion auf dem neuesten Kenntnisstand sein kann, sondern nach Möglichkeit direkt festzustellen, um welche Art von Befund es sich konkret handelt – obwohl er so selten ist.

Katharina Erb-Eigner

Förderprogramm
Inventors for Health

Förderzeitraum
2020 bis 2022

Fachgebiet
Radiologie

Vorhaben
RadioEye – Ein einzigartiges Diagnostic Decision Support Tool für Radiologen

Institution
Charité – Universitätsmedizin Berlin

 

Seit 2016
Funktionsoberärztin in der Klinik für Radiologie der Charité – Universitätsmedizin Berlin

Seit 2020
Principle Investigator und Gründerin von RadioEye am Berlin Institute of Health der Charité

Das wollen wir mithilfe eines Diagnostic Decision Support Tools namens RadioEye verwirklichen, das KI-gestützt eine Auswahl an MRT- bzw. CT-Vergleichsbildern liefert. In der Literatur heißt das „Content-based Image Retrieval“. Bei Google sieht man, wie toll das funktioniert für Produkte, für Sehenswürdigkeiten, z. B. für den Eifelturm, von jedem Winkel aufgenommen, egal wo in Paris. Sie kriegen den Eifelturm zurück, wenn Sie das bei Google hochladen! Image Search funktioniert also technisch, und da ist einfach nicht zu verstehen, warum die Radiologie, die sowas wirklich braucht, warum die so etwas noch nicht hat. Es gibt neben uns ein paar andere Teams auf der Welt, die an einer solchen Entwicklung arbeiten, aber ich glaube, wir sind jetzt führend. Wenn wir als Radiologinnen und Radiologen zunächst nur beschreibend vorgehen, müssen wir unseren Patientinnen und Patienten im Anschluss häufig noch eine Gewebeprobe entnehmen, um hinsichtlich der Diagnose konkret werden zu können. Gerade im Bereich der Augen oder des Gehirns will man so eine Biopsie aber eigentlich vermeiden, zum Wohle der Patientinnen und Patienten und wegen der Risiken, die damit verbunden sind. Letztendlich funktioniert RadioEye also ein bisschen so wie ein reverse image search von Google: Ein Radiologe bzw. eine Radiologin reicht ein Bild eines seltenen Befundes ein und erhält vergleichbare Aufnahmen zurück – so ähnlich wie bei diesen Pflanzen- oder Pilzsuch-Apps, die viele von uns auf dem Smartphone haben.

Wie kann man sich die Funktionalität dieses Tools genau vorstellen? Wie nützt es dem Arzt bzw. der Ärztin im Alltag?

Stellen Sie sich vor, Sie sähen ein Tier; wüssten aber von sich aus nicht, ob es sich um einen Leoparden, einen Gepard oder einen Jaguar handelt. Um der Lösung näher zu kommen, zeigen Sie dem Tool ein Bild des Tieres, welches daraufhin je mit dem passenden Tiernamen verschlagwortete Aufnahmen auswirft, die Sie zum Vergleich heranziehen können. Auf den Aufnahmen sehen Sie, dass sich die drei Raubkatzenarten bezüglich ihrer Fellmusterung unterscheiden – sie dadurch identifizierbar werden. Diese unterschiedlichen Musterungen können Sie nun mit ihrem eigenen Bild abgleichen. Das hilft Ihnen zu entscheiden, um welches Tier es sich handelt. In der Radiologie ist das natürlich viel komplexer. Trotzdem unterstützen die Vergleichsbilder den Radiologen bzw. die Radiologin dabei, sich auf eine Diagnose festzulegen. Gleichzeitig finde ich es wichtig zu erwähnen, dass das Programm keinesfalls ein Ersatz für die Beurteilung seitens des Arztes bzw. der Ärztin sein soll – nur diese Person hat am Schluss die Expertise und kennt die konkrete Sachlage.

Auf welchem Stand befindet sich RadioEye heute? Sie haben mal mit 30 Diagnosen angefangen. Konnten Sie die Anwendung schon skalieren?

Mittlerweile konnten wir 500 radiologische Fälle aus der Charité in RadioEye einpflegen. Ein Fall besteht in der Regel aus mehreren hundert Bildern, was bedeutet, dass sich nun insgesamt um die 200.000 Einzelbilder im Tool befinden. Zuvor haben wir ein Pre-Training an etwa 1,6 Millionen radiologischen Bilddateien durchgeführt. Das waren allerdings keine Aufnahmen spezieller atypischer, sondern eher genereller Fälle. Es ging im Zuge dessen eher darum, den Algorithmus mit den MRT-Daten dahingehend zu trainieren, dass er nicht auf z. B. Unterschiede im Scanner hineinfällt. Denn natürlich sieht die Vor-Ort-Situation für die Nutzerinnen und Nutzer unterschiedlich aus. Das darf nicht zu Fehlern führen. Darüber hinaus haben wir inzwischen auch Daten von Partner-Zentren aus unter anderem Frankreich und den Vereinigten Staaten erhalten, mit denen wir RadioEye noch besser machen können. Im Gespräch mit anderen stehen wir kurz davor, Bilddaten zu bekommen. Kommunikativ ist das nicht immer ganz einfach. Was die Teams dann schließlich häufig überzeugt, ihre Daten offen mit uns zu teilen, obwohl wir damit ein kommerzielles Produkt bauen, ist unser Angebot, RadioEye dann auch selbst umsonst nutzen zu dürfen. Ein zusätzlicher Punkt, an dem wir uns momentan befinden, ist das Business. Wir fragen uns natürlich, ob es Interessierte geben wird, die am Ende Geld für unser Tool zahlen. Dazu tauschen wir uns zurzeit mit Expertinnen und Experten aus, die uns beraten.

Sind Sie und Ihr Team bei der Verwirklichung des Projekts auf weitere Hürden gestoßen?

Ja, Hürden gab es doch einige. Eine Schwierigkeit bestand z. B. im Umgang mit den Bilddaten. Wenn Sie zehn Juristinnen oder Juristen fragen, was ein anonymisiertes radiologisches Bild ist, dann kriegen Sie zehn verschiedene Antworten! In Deutschland gibt es diesbezüglich keine Kriterien, die der Orientierung dienen könnten, weshalb man juristisch in der Schwebe hängt. Vielleicht wird sich das durch den von der EU geplanten AI Act ändern. Gut wäre es. Mithilfe der Förderung durch die Stiftung Charité konnten wir einen Juristen, der nicht in-house war, also nicht zur Charité gehörte, zur Unterstützung hinzuziehen. Er kam aus einer Kanzlei, die auf solche Fälle spezialisiert war. Weitere Unterstützung haben wir auch von den behördlichen Datenschutzbeauftragten und dem Clinical Trial Office der Charité erhalten. Die Patientinnen und Patienten auf der anderen Seite sind eigentlich immer damit einverstanden, ihr anonymisiertes Bild zur Verfügung zu stellen. Sie haben mit der eigenen Erkrankung einen schlimmen Weg hinter sich und hoffen, einer anderen Person durch das Bereitstellen ihrer Daten helfen und ein gewisses Leid ersparen zu können. Mein Eindruck nach vielen Diskussionen zum Thema: Der Datenschutz wird manchmal leider als Ausrede verwendet, um die Dinge im Ist-Zustand zu lassen. Eine ganz andere Problematik war die Beschaffung der einzelnen Bestandteile, die wir für unser Tool benötigten. Diese waren nicht unbedingt in der Einkaufssoftware, die uns in der Charité zur Verfügung steht, hinterlegt, was den gesamten Beschaffungsprozess – und damit auch den Entwicklungsprozess von RadioEye – sehr erschwert hat.

Wo soll RadioEye in Zukunft zum Einsatz kommen, was schwebt Ihnen da vor? Sehen Sie das Tool in Facharztpraxen, in Kliniken oder ganz woanders?

Unsere Vision ist es, dass jeder Radiologe bzw. jede Radiologin dieser Welt RadioEye PACS-integriert verwenden kann. PACS ist das Picture Archiving and Communication-System, mit dem in der Radiologie standardmäßig gearbeitet wird – eine Software, mithilfe derer radiologische Bilder betrachtet werden können. Wir wünschen uns, dass alle Radiologinnen bzw. Radiologen innerhalb des PACS-Systems und praktisch mit einem Klick die beschriebene Ähnlichkeitssuche durchführen können. Langfristig gesehen könnten Patientinnen und Patienten auf der ganzen Welt somit viele Biopsien erspart bleiben, weil sich der Arzt bzw. die Ärztin von Anfang an klarer festlegen kann und möglicherweise direkt zielgerichtete Therapieansätze ausprobiert. Eine Biopsie beispielsweise am Seh-Nerv zu machen ist fürchterlich. Das muss man sich gut überlegen, die Patientin hatte vielleicht schon elf MRTs, tut man ihr das wirklich noch an? Wir sollten vermeiden, was an Biopsien zu vermeiden möglich ist! Das ist der Traum, dass jeder Radiologe, jede Radiologin der Welt dieses Tool benutzt.

Sie sagten, dass RadioEye keinen Radiologen bzw. keine Radiologin ersetzen soll bzw. kann. Wollen Sie das noch einmal in Bezug auf die aktuelle KI-Debatte ausführen?

Gerne. Kennen Sie folgenden Satz des Mathematikers Geoffrey Hinton, immerhin Turing-Preisträger? Er sagte 2016: ‘People should stop training radiologists now. It’s just completely obvious that within five years deep learning is going to do better than radiologists.’ So ein Satz macht Eindruck – hat er auch auf mich gemacht als Fachärztin damals. Jetzt haben wir 2023, und was ist passiert? Der Workload hat sich vervielfacht. Es hat sich gezeigt, dass technische oder KI-gesteuerte Tools den Arzt bzw. die Ärztin gerne und unterstützen können, die basalen Aufgaben abnehmen können, jedoch nie unabhängig vom Menschen agieren sollten. Am Ende braucht es doch einfach den menschlichen Verstand, der noch einmal einen prüfenden Blick auf die Sachlage wirft und z. B. sagen kann: okay, der Tumor ist jetzt gewachsen oder eben kleiner geworden. Das finde ich insbesondere in Bezug auf den klinischen Kontext wichtig, da dieser sehr komplex sein kann. Passend dazu vielleicht eine persönliche Anekdote: Ich habe letztes Jahr bei einem Triathlon mitgemacht und war drei Minuten langsamer als in der Vergangenheit. Daraufhin habe ich mich einem Lungenfunktionstest unterzogen. Der Computer-Ausdruck dieses Tests besagte, dass meine Lunge nur noch zwischen 50 und 60 Prozent der Leistungsfähigkeit eines gesunden Menschen in meinem Alter besäße! Dieser Ausdruck wurde mir so mitgegeben. Zwei Tage später hatte ich das Gespräch mit dem Lungenfacharzt dazu, der wiederum feststellen konnte, dass meine Lungenleistung bei 99 Prozent liegt. Besser geht es gar nicht! Im ersten Fall wurden die Ergebnisse, die ein Computer gemessen hat, praktisch unvermittelt weitergegeben. Und sie waren falsch.

Um ein wenig bei Ihren persönlichen Erfahrungen zu bleiben: Sie waren einige Zeit im Ausland, unter anderem in Frankreich und England. Was haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen?

In England war ich zwei Jahre lang und was ich dort neben der sehr gründlichen Ausbildung besonders toll fand, war dieses internationale Umfeld. Wir hatten Visiten, bei denen Menschen nahezu aus aller Welt anwesend waren. Das habe ich als wahnsinnig bereichernd und inspirierend empfunden. Die flachen Hierarchien waren ebenfalls eine angenehme Abwechslung für mich. Ich glaube, diese ganzen Auslandserfahrungen haben mich auch insofern geprägt, als dass ich mich durchaus traue, gegen den Strom zu schwimmen. Man sollte nicht immer bloß ‚vorgefertigten‘ Karrieren nachgehen. RadioEye beispielsweise gäbe es sonst gar nicht!

Würden Sie das auch Nachwuchsmedizinerinnen bzw. -medizinern mit auf den Weg geben?

Definitiv. Traut euch, andere Richtungen einzuschlagen und auch einmal etwas zu wagen. Das ist natürlich nicht immer einfach, aber es lohnt sich. Es gibt immer mehr als den einen Weg.

Zu guter Letzt: Es fällt auf, dass Sie zwei Doktortitel haben. Wollen Sie uns die Geschichte dahinter erzählen?

Ja – obwohl ich mich bis heute darüber ärgere! Ich komme gebürtig aus Österreich und habe dort nach einer alten Studienordnung studiert. 2006 gab es die Möglichkeit, das Studium entweder mit einer richtigen Doktorarbeit zu beenden oder mit einem Wahlfach. Nur eine kleine Zahl Studierender hat sich damals für den Doktor-Weg entschieden, unter anderem ich. Ich promovierte in der Neurochirurgie zum Thema Orbita-Tumore, an dem ich interessanterweise bis heute dran bin. Doch als ich nach Deutschland kam, hieß es, dass mein Titel „Doctor medicinae universae“ (Doktor der gesamten Heilkunde) in Deutschland nicht als Doktor der Medizin anerkannt wird. Deutschland hat den österreichischen Titel nicht akzeptiert, weil dieser kein PhD war. Dabei ist der medizinische Doktortitel in Deutschland ebenfalls kein PhD, d. h. man forderte ein Niveau ein, das unter den eigenen Leuten nicht gegeben war. Also musste ich tatsächlich einen zweiten Dr. med. machen, um meine Habilitation einreichen zu dürfen. Mein Beispiel zeigt: Sogar innerhalb der EU müssen internationale Kooperation und die gegenseitige Anerkennung der wissenschaftlichen Systeme noch dringend besser werden!

Juni 2023 / Marike de Vries & Dr. Nina Schmidt